Wir sitzen am Nabel der Welt, als Tito von der Liebe erzählt. Den Frauen hier auf der Osterinsel, Südseeschönheiten allesamt, schenkt er seine Liebe nicht mehr.
Wir sitzen am Nabel der Welt, als Tito von der Liebe erzählt. Den Frauen hier auf der Osterinsel, Südseeschönheiten allesamt, schenkt er seine Liebe nicht mehr. Zweimal haben sie ihm das Herz gebrochen. Dabei hatte er alles richtig gemacht. Er hat sich ein wildes Pferd gefangen und ist zu seiner Liebsten geritten. So machen das die jungen Männer hier. Sie ist aufgestiegen, gemeinsam sind sie über die Insel galoppiert und haben sich zum Abschied geküsst. "Schlag sie dir aus dem Kopf", hatte Titos Mutter jedes Mal gesagt. Sie hat den Stammbaum im Kopf. Nur 36 Familien leben auf der Osterinsel, und Titos Auserwählte war jedes Mal Mitglied der eigenen. Tito setzt nun auf Frauen vom Festland.
Auch der Nabel der Welt ist eine Enttäuschung. Wir stehen vor vier glatten, runden Steinen, die um einen größeren, ebenso glatten und runden Stein liegen. Und das soll der Mittelpunkt der Erde sein? Die Archäologen, die die Steine so in den Nordosten der Insel drapiert haben, mögen gedacht haben, dass eine Insel, die die Legende "Te pito o te Henua - Nabel der Welt" nennt, auch einen solchen vorweisen können muss.
Die längste Zeit hat die Welt nichts von dieser Insel, die ihr Nabel sein will, geahnt. Sie ist klein und so weit weg vom Weltgeschehen, dass man sie schlicht übersehen hatte. Mitten im Pazifischen Ozean liegt sie, ist dreieckig, aus Vulkangestein und mit einer Fläche von 162 Quadratkilometern in etwa so groß wie Wuppertal. 3700 Kilometer sind es von hier zum nächsten Kontinent, Südamerika. Das ist ungefähr so weit wie von Wuppertal bis nach Bagdad.
Langsam schreitet Tito voran. Wir steigen über Skelette, zerkratzen uns die Hände an dornigen Büschen, hören die Samen verdorrter Lupinen leise im Wind klappern. Ab und an kreuzen wilde, braune Pferde unseren Weg. 8000 leben auf der Insel und nur halb so viele Menschen.
Alle Zeit der Welt
Gemessen ist die Geschwindigkeit von Titos Schritten, seinen Worten und seinen Gesten. Nichts bringt ihn aus der Ruhe, auch der einsetzende Regen nicht. Tito wird nicht schneller, aber er wechselt die Richtung. Er mag es nicht, wenn ihm der Regen ins Gesicht fällt, sich die Feuchtigkeit auf die stolz geschwungenen Augenbrauen und die ausgeprägten Wangenknochen legt und schließlich von seiner langen Nase tropft.
Dass uns die neue Richtung nicht zum Ziel führen wird, ist Tito egal. Wie jeder Inselbewohner hat er alle Zeit der Welt. Selbst der Galopp der Pferde wirkt gelassen. Die Zeit liege wie ein gleichmäßiger Teppich auf den Wellen des Ozeans, sagt Tito, und hier, an diesen drei Vulkankratern, denen die Insel ihr Entstehen verdankt, bleibt sie hängen und wölbt sich. Durch Zufall entdeckte der Holländer Jakob Roggeveen die Insel vor genau 284 Jahren. Er segelte durch den Pazifik, um für die Händler in der Heimat neue Verkaufsgebiete zu finden, als er das Eiland karg und felsig aus dem Meer ragen sah. Und weil daheim gerade Ostersonntag war, nannte er sie Osterinsel.
Doch zu holen war auf der Insel nichts und auch nichts zu verkaufen. Grüngraues Gras, so weit das Auge reichte und riesige, moosbewachsene Steinfiguren. Mehr nicht. Die Menschen, auf die der Seefahrer traf, hausten in Höhlen und stahlen alles, was ihnen in die Finger kam. Roggeveen stach nach einem Tag wieder in See.
Das Geheimnis der Steinfiguren
Nach einigen Stunden im Zickzack erreichen wir den Vulkan Rano Raraku, den Ort, an dem mir Tito vom Geheimnis der Steinfiguren erzählen will. Kein Forscher hat ihr Rätsel je gelöst. Hunderte Figuren stehen, sitzen oder liegen im Gras am Rande des Kraters. Andere scheinen bis zu den Köpfen in den Boden gesunken. Sie wiegen bis zu 85 Tonnen, und alle schauen sehr, sehr ernst.
Die Forscher waren gründlich. Sie haben gezählt, gemessen, gerechnet und gewogen. Vor 1000 Jahren, so fanden sie immerhin heraus, wurden die ersten Figuren hier aus dem Krater gemeißelt. Fünf bis sechs Meter groß waren die ersten. 30 Steinmetze sollen etwa ein Jahr an jeder der Figuren gearbeitet haben, von denen rund 900 über die Insel verteilt liegen.
Es muss ein vorzeitliches Wettrüsten stattgefunden haben, glauben die Wissenschaftler, denn mit den Jahren wurden die Moais, wie Tito die Steinskulpturen nennt, immer größer. Der Größte misst 21 Meter und liegt noch hier am Kraterrand. Sie fanden Palmensamen. Früher wuchs dichter Dschungel auf der Insel, sagen sie. Und vor 350 Jahren wurde der letzte Baum gefällt. Warum, das wissen sie nicht. Die Schrifttafeln aus der damaligen Zeit kann bis heute niemand entziffern.
Auch Tito nicht. Ihr Geheimnis kennt er trotzdem. Mana sei das, worum es geht, sagt Tito. Macht, Ehre und Kraft. Alle Männer haben es - in den Haaren. Deshalb trägt Tito sein Haar lang, wie alle Männer hier. Je länger das Haar, desto mehr Mana hat der Träger.
Wenn damals Männer mit Mana starben, sagt Tito, wurde ihnen ein Moai aus dem Krater gemeißelt. Damit das Mana nicht verloren gehe. An der Küste wurden ihnen Altäre, Tito nennt sie Ahus, gebaut. Dort wurden die Moais aufgerichtet. Augen aus weißer Koralle wurden in die leeren Augenhöhlen gelegt. Und dann floss das Mana wieder, aus den Augen auf das Volk. So schützte es die Menschen vor den bösen Geistern der See. Darüber, wie die riesigen Moais auf die Ahus kamen, sind sich die Forscher nicht einig. Auf Baumstämmen wurden sie geschoben, sagen die Forscher. Von Außerirdischen wurden sie gebracht, sagt Erich von Däniken. "Es war das Mana, sie sind gelaufen", sagt Tito.
Das Ende der Moai-Kunst
Warum die Bewohner vor 800 Jahren damit aufhörten, Moais zu meißeln, wissen weder Tito noch die Forscher noch Däniken. Auch warum sie umgestürzt wurden, ist ein Rätsel. Es brach Krieg aus, nachdem der letzte Baum gefällt war, glauben die Forscher. Es habe an Holz gefehlt, um neue Schiffe für den Fischfang zu bauen. Die Stämme bekämpften sich, töteten ihre Gegner. Sie stürzten deren Moais um und zerstörten die Augen, damit das Mana nicht mehr fließe. Was mit den Augen geschah, weiß niemand. Bis heute hat man nur ein einziges auf der Insel gefunden.
Und niemand weiß schließlich, woher die Bewohner der Insel stammen. Seine Vorfahren seien von den Marquesas gerudert, sagt Tito. Die Sterne hätten sie geführt - in kleinen Holzbooten über das größte Meer der Welt, die halbe Strecke von Wuppertal nach Bagdad. Hier lebten sie 1300 Jahre in totaler Isolation, nannten ihre Insel den Nabel der Welt und glaubten an das Mana ihrer Moais. Trotz all der steinernen Schützer kam eines Tages im 18. Jahrhundert Böses von der See. Nachdem Roggeveen die Insel entdeckt hatte, kamen europäische Seeleute, amerikanische Walfänger und peruanische Sklavenhändler. Sie entführten, vergewaltigten und ermordeten die Einheimischen. Viele starben an eingeschleppten Infektionskrankheiten. Hatte Roggeveen 20 000 Einwohner geschätzt, so fand der chilenische Kapitän Pedro Toro 150 Jahre später nur 100 elende Männer sowie 78 Frauen und Kinder vor.
Wir schauen vom Krater des Ranu Kao auf Motu Nui (Vogelinsel), die einige Hundert Meter entfernt im Meer liegt. Früher seien die Männer dort hinübergeschwommen und haben die Eier der Seeschwalben gesucht, sagt Tito. Wer als Erstes ein unversehrtes Schwalben-Ei zum Krater brachte, durfte das Oberhaupt seines Stammes, den Vogelmann, bestimmen. 1864 fand der letzte Wettkampf statt. Es war das Jahr, in dem die Missionare kamen.
Viel hat sich geändert seitdem. Eine Kirche wurde gebaut und ein Flughafen, so groß, dass die Nasa ihn als Landeplatz für den Spaceshuttle nutzen könnte. Seit 40 Jahren nun gehört die Insel offiziell zu Chile. Und die Moais haben zu all dem stets geschwiegen. Schon lange ist es wieder ruhig auf der Osterinsel. Zu ruhig für Tito. Im Zickzack läuft er über die Insel und erzählt allerhand mystische Geschichten. Und die Touristen laufen ergeben hinter ihm her. Sie bestaunen das Schweigen der Steine, die vielen Fragen, die mit diesen verbunden sind und die wenigen Antworten dazu. Doch wer weiß, vielleicht ist bei einer seiner Touren ja auch die richtige Frau für Tito darunter.