Lettland

Alte Wunden

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Julia Smirnova

Ein Drittel der lettischen Bevölkerung gehört zur russischen Minderheit. Die Angst ist groß, dass Moskau das „Modell Ukraine“ ausweitet

Miroslaw Mitrofanow liebt Provokationen. Im Frühjahr war der zweite Vorsitzende der Partei „Russische Union Lettlands“ Wahlbeobachter des umstrittenen Referendums über die Unabhängigkeit der Krim von der Ukraine. In Lettland organisiert er regelmäßig prorussische Demonstrationen: Auf denen verteidigt er die russische Position im Ukraine-Konflikt und propagiert die Bedrohung der russischen Bevölkerung in Lettland. Besonders populär sind diese Proteste allerdings nicht.

Zu seiner letzten Demonstration im Zentrum der lettischen Hauptstadt Riga kommen nur ein paar Dutzend Menschen. Zwei Männer halten ein Plakat hoch: „Die Sprache führt uns bis nach Kiew.“ Der Streit um Russisch als zweite Amtssprache ist ein Hauptstreitpunkt zwischen der russischen Minderheit und der lettischen Bevölkerung. Die Demonstranten sehen in der Ablehnung dieses Ansinnens gleich einen Konflikt wie in der Ukraine aufsteigen. Auch Mitrofanow zieht gern Parallelen zwischen der Ukraine und Lettland. Vor einigen Tagen organisierte er etwa eine Veranstaltung in Gedenken an die Menschen, die bei dem Brand im Gewerkschaftshaus in Odessa am 2. Mai ums Leben gekommen sind. „Wir hätten an ihrer Stelle in Odessa verbrennen können“, erklärt er. Dann spricht er über die angeblich „neonazistischen Tendenzen lettischer Beamten“. Eine Formulierung, die sehr stark an die Berichte der russischen Medien über die „Neo-Nazis“ in Kiew erinnert.

Seit Beginn der Ukraine-Krise verkündet Russland über die Medien und die russische Bevölkerung im Ausland vor allem eine Botschaft: Russen würden vielerorts wegen ihrer Nationalität diskriminiert und Moskau müsse sie in Schutz nehmen. Die Krise auf der Krim und in der Ostukraine begann auch mit dem Hilferuf kleinerer Gruppierungen, Moskau möge sie gegen „Faschismus“ schützen. Was daraufhin passierte, diente jedoch weniger dem Schutz von russischen Minderheiten als vielmehr den Ambitionen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Einfluss auf die Ukraine zurückzugewinnen. Russland sehnt sich nach der Größe der Sowjetunion und des Zarenreichs.

In den baltischen Staaten, in denen die russischen Minderheiten bei fünf bis 27 Prozent der Bevölkerung liegt, wächst seit der russischen Aggression in der Ukraine deswegen die Sorge, dass Moskau unberechenbar geworden ist. Bei seinem Besuch in Estland musste US-Präsident Barack Obama die drei baltischen Nato-Mitglieder überzeugen, dass die Allianz sie nicht im Stich lassen werde. Würde Russland versuchen, Lettland, Estland oder Litauen zu destabilisieren, wäre das eine Zerreißprobe für die EU und die Nato. Am größten ist die russische Minderheit in Lettland, 27 Prozent der etwa zwei Millionen Einwohner gehören ihr an. Nach der Besetzung des Landes durch die Sowjetunion begann eine Russifizierung. Die meisten Russen leben in den Großstädten. In der Hauptstadt Riga hört man auf den Straßen Russisch fast genau so oft wie Lettisch. 40 Prozent der Einwohner der Rigas sind ethnische Russen.

Die russische Minderheit und die lettische Bevölkerung haben nur wenige Berührungspunkte. Auch wenn die Probleme nicht so drastisch sind, wie Mitrofanow von der „Russischen Union Lettlands“ sie formuliert. Das zeigt sich auch im Gespräch mit der 76-jährigen Rentnerin Nina Popkowa, die an der Demonstration in Riga teilnimmt. 1970 ist sie mit ihrem Mann aus der südrussischen Stadt Brjansk nach Lettland gezogen. Die ehemalige Lehrerin vertritt bei dem Protest vor allem ein Anliegen: „Hände weg von russischen Schulen“, steht auf den Plakaten. Im Umgang mit ihrem lettischen Kollegen habe sie „nur einen freundlichen Umgang erlebt, keinen Hass“. Popkowa hat den lilafarbenen Pass wie etwa 280.000 sogenannte Nichtbürger, zu denen viele ethnische Russen gehören. Menschen, die zwischen 1940 und 1990 in das Land kamen und nach der Unabhängigkeit nur nach der Absolvierung eines Sprachtests die Staatsbürgerschaft bekommen konnten. Als Nichtbürgerin kann Popkowa in der EU reisen und bekommt die gleiche Rente wie die lettischen Bürger, nur wählen oder staatliche Posten bekleiden darf sie nicht. Einige Nichtbürger fühlen sich auf Grund der Sprachprüfung ungerecht behandelt.

Das größte Problem in Lettland ist allerdings, dass die russische und die lettische Bevölkerung immer noch weitgehend getrennt voneinander lebt. „Ihre Kinder gehen in unterschiedliche Schulen und Kindergärten, sie schauen unterschiedliche Fernsehsender“, sagt der lettische Wirtschaftsminister Vjaceslavs Dombrovskis. „Ich sehe hier kein direktes Konfliktrisiko, aber die Situation ist ziemlich problematisch.“ Dombrovskis betrachtet sich selbst als Ausnahme: er war der erste russische Bildungsminister in Lettland, jetzt ist er der erste russische Wirtschaftsminister. „Ich bin einer der wenigen Russen, die abseits der ethnischen Linien arbeiten“, sagte er. Er leitet die zweitpopulärste „Reformpartei“, die sich rechts von der Mitte einordnet, aber traditionell nicht von der russischen Minderheit gewählt wird. „Einige halten mich bestimmt für einen Verräter, andere für pragmatisch“, sagt Dombrovskis. Er zeigt zugleich, dass die ethnischen Grenzen in Zukunft verschwimmen können.

Bis jetzt allerdings sind die Sympathien der lettischen Wähler noch stark mit ihren ethnischen Wurzeln verknüpft. „Leider verläuft der politische Kampf nicht entlang sozialdemokratischer und liberaler Vorstellungen, sondern zwischen russischen und lettischen Vorstellungen“, sagt Andis Kudors, Leiter des Thinktanks Centre for Eastern European Policy Studies in Riga. Die meisten russischsprachigen Bürger wählen die Partei „Saskanas“, was „Harmonie“ bedeutet. Bei den letzten Parlamentswahlen wurde „Saskanas“ die populärste Partei. Allerdings hat sie es bis jetzt nicht geschafft, eine Regierung zu bilden. Denn keine Partei will eine Koalition mit der Partei bilden, die die Besetzung Lettlands durch die Sowjetunion nicht anerkennt und eine Partnerschaft mit Putins Regierungspartei „Einiges Russland“ eingegangen ist.

Am 4. Oktober finden in Lettland die nächsten Parlamentswahlen statt. „Die Ukraine-Krise ist zum Problem der Saskanas-Partei geworden, die sich um die richtigen Formulierungen bemüht“, sagt der Soziologe Aivars Freimanis, der das Umfrage-Institut „Latvijas Fakti“ leitet. Einerseits versucht die Partei sich nicht als prorussisch, sondern als sozialdemokratisch zu etablieren und so auch Stimmen von ethnischen Letten zu gewinnen. Angesichts der Ukraine-Krise stimmte die Fraktion im Parlament deswegen auch für die Erhöhung der Militärausgaben zum Schutz der Grenzen gegen Russland. Andererseits will die Partei die traditionellen Wähler nicht an die radikaleren Konkurrenten wie die „Russische Union Lettlands“ verlieren.

Am vergangenen Donnerstag reiste der Bürgermeister von Riga, der führende Kopf der Partei „Saskanas“, nach Moskau und traf sich mit dem russischen Vizepremier Arkadi Dworkowitsch, um über den Importstopp von Lebensmitteln aus der EU nach Russland zu sprechen. In einem Interview mit dem russischen Sender „Doschd“ erklärte er: „Präsident Putin ist das Beste, was wir jetzt haben können.“ Alternativen seien nur Kommunisten oder Nationalisten, argumentierte er. Die Parteikollegen in Lettland wollen sich dazu nicht äußern. „Ich kommentiere das nicht“, sagt die „Saskanas“-Kandidatin Jelena Koncevaja, die in einem Plattenbauviertel von Riga ihre Wahlkampagne führt. Überhaupt meidet die 33-jährige Kandidatin problematische Themen vor den Wahlen. Die ethnischen Probleme müsse man in Lettland nicht künstlich aufblasen. Und über den Krieg in der Ukraine sagt sie: „Die Zeit wird zeigen, wer recht hat.“

Sorge um die Zukunft

Diese Position wird von der Mehrheit der Russen in Lettland geteilt. Laut einer Umfrage des soziologischen Zentrums SKDS im Auftrag der lettischen Regierung sympathisieren 41 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung im Ukraine-Konflikt weder mit Russland noch mit der Ukraine. 36 Prozent unterstützen die russische Seite, 15 Prozent die ukrainische. 45 Prozent sind gegen den Einsatz von russischen Truppen in der Ukraine, doch 29 Prozent billigen das Eingreifen. Schließlich glauben 43 Prozent der Russen in Lettland, dass russische Medien objektiv über die Ukraine-Krise berichten, 36 Prozent halten sie für nicht objektiv. Das zeigt, dass Putins Propaganda bis nach Lettland reicht.

„Die Invasion der Ukraine hat alle alten Wunden aufgerissen“, sagt der Abgeordnete Ojars Kalnins, der den Außenausschuss leitet. „Die Menschen trauen nicht nur der Vergangenheit nach, sondern haben auch Angst vor der Zukunft.“ Solange die Wunden nicht geheilt sind und Moskau seine aggressive Politik fortsetzt, besteht das Risiko, dass Putin die Minderheiten auch in den baltischen Staaten dazu nutzt, um seinen Einflussbereich zu weiten.