Aufbau Ost

Zwei Billionen Euro für blühende Landschaften

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Seit 1989 ist viel Geld in den Osten geflossen. Es wurde nicht verplempert. Doch der Aufbau stockt

Für Orchideen-Liebhaber ist das Naturschutzgebiet „Leutratal-Cospoth“ ein Paradies. Mindestens 27 Orchideen-Arten wachsen in den sächsischen Muschelkalkhängen bei Jena, so viele wie nirgendwo sonst in Deutschland. Der örtliche Naturschutzbund bietet Orchideenführungen durch das Naturschutzgebiet an. Bislang beginnt und endet die Tour an der Autobahnunterführung der A4 am östlichen Ende von Leutra. Doch nicht mehr lange, dann hat der nervtötende Autobahnlärm ein Ende, dann haben die Orchideen-Freunde das Tal ganz für sich allein. Um das Naturschutzgebiet Leutratal besser zu schützen, wird die A4 um das Tal herum verlegt. Das Kernstück der Umgehung, der über drei Kilometer lange Jagdbergtunnel, soll ab Herbst befahrbar sein.

In Projekte wie den Jagdbergtunnel ist den vergangenen 25 Jahren viel Geld aus dem Westen geflossen. Wie viel die Wiedervereinigung insgesamt bis heute gekostet hat, lässt sich nicht so genau nachvollziehen. Niemand hat Buch über die Kosten der Wiedervereinigung geführt. Allerdings geben exklusive Berechnungen von Wissenschaftlern und Wirtschaftsinstituten für die Berliner Morgenpost einen Umriss über die Geldströme von West nach Ost im vergangenen Vierteljahrhundert: Demnach sind netto rund zwei Billionen Euro in den Osten geflossen.

Stillstand seit gut zehn Jahren

Anders als ihnen oft vorgeworfen wurde, haben die Ost-Länder die Hilfen aus dem Westen trotz einiger Skandal-Projekte nicht verprasst. Doch ihre erhoffte segensvolle Wirkungen hatten die gewaltigen Finanzströme auch nicht: Seit gut zehn Jahren herrscht Stillstand beim Aufbau Ost. Und daran wird sich lange Zeit nichts ändern. „Der Osten wird auf absehbare Zeit den Anschluss an den Westen nicht schaffen“, sagt Joachim Ragnitz vom Dresdner ifo-Institut. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer zeigt sich: Deutschland wird sich damit abfinden müssen, dass das große Ziel gleicher Lebensverhältnisse in Ost und West nicht realisierbar ist.

Dabei hat die Politik im vergangenen Vierteljahrhundert kaum etwas unversucht gelassen. Sie hat einen Geldregen auf Ostdeutschland niederregnen lassen in der Hoffnung, dass zuerst Wachstumspflänzchen aus dem Boden sprießen. Wachstumszentren sollten entstehen, die ihr Umland wirtschaftlich mitziehen. 560 Milliarden Euro betrugen dem Dresdner ifo-Institut zufolge allein direkte Finanztransfers in den Osten. Dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge haben die Regierungen der fünf Ost-Länder und ihre Bevölkerung seit der Wiedervereinigung rund 1,5 Billionen Euro mehr verbraucht, als sie selbst erarbeitet haben.

Rechnet man alle Finanztransfers in den Osten zusammen – die verschiedenen Töpfe zur Ankurbelung der Wirtschaft, Solidarpakt I und II, Länderfinanzausgleich, EU-Fördermittel, Transfers über die Sozialsysteme abzüglich der selbst erzeugten Steuern und Sozialabgaben – kommt Klaus Schröder vom Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin am Ende auf einen runden Betrag: „Die Deutsche Einheit hat zwischen 1990 und 2014 netto knapp zwei Billionen Euro gekostet“, schätzt er. Rund 60 bis 65 Prozent dieses Betrags sind in den Sozialbereich, davon wiederum ein Großteil in die Rente geflossen, sagt Schröder. Aber auch abzüglich dieser Transfers blieben den ostdeutschen Ländern viele Milliarden Euro übrig, die sie vor ihrer Haustür investieren konnten.

In ihren „Fortschrittsberichten“ zur Verwendung der Solidpakt-Mittel mussten die Ostländer viele Jahre einräumen, das Geld nicht vorschriftsmäßig einzusetzen. Aus den Berichten für das Jahr 2010 geht hervor, dass nur Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ihre Solidarpaktmittel „vollständig zweckgerecht“ verwendeten. In Sachsen-Anhalt wurde immer noch die Hälfte für Personal versenkt. Oberbürgermeistern mehrerer armer Ruhrgebietsstädte reichte es vor zwei Jahren: Sie forderten mit Blick auf die Verschwendung im Osten und die eigene prekäre Lage eine vorzeitige Beendigung des bis 2019 laufenden Solidarpakts II.

Erfolgreich industrialisiert

Experten finden dennoch nicht, dass der Osten seine Hilfen verprasst hat. „Insgesamt ist der Osten seit der Wiedervereinigung gut mit den Finanzhilfen aus dem Westen umgegangen, auch wenn das eine oder andere Projekt daneben ging“, sagt ifo-Forscher Ragnitz. „Der Aufbau Ost ist unter Maßgabe der Möglichkeiten ein Erfolg“, meint auch Karl-Heinz Paqué, Wirtschaftsprofessor an der Uni Magdeburg und ehemaliger FDP-Finanzminister Sachsen-Anhalts. Der Flurschaden des Sozialismus sei gewaltig gewesen. Gemessen daran seien die Universitäten im Osten heute wettbewerbsfähig, die Infrastruktur erneuert, zumindest Teile Ostdeutschlands erfolgreich wieder industrialisiert.

Verplempert hat der Osten die Milliarden aus dem Westen also nicht. Dennoch ist der Aufbau Ost ins Stocken geraten. Bei der Steuerkraft sehen die Ost-Länder die West-Länder nur mit dem Fernrohr. Die Wirtschaftskraft je ostdeutschen Einwohner liegt seit 2005 unverändert bei gut zwei Drittel eines Westdeutschen. Das Bruttoinlandsprodukt je ostdeutschem Erwerbstätigen verharrt ebenfalls seit neun Jahren bei gut 75 Prozent des West-Niveaus. „Das Glas im Osten ist dreiviertel voll. Aber das letzte Viertel aufzufüllen, wird sehr schwer“, sagt Paqué.