Es ist schon das zweite Paar Schuhe, das er in den vergangenen vier Wochen durchgelaufen hat, und ganz sicher ist es nicht, ob diese Turnschuhe es noch von Petzow in Brandenburg bis Berlin schaffen. Jasin Jafari ist mit ihnen schon Hunderte Kilometer durch Deutschland gegangen. Unter seinen Füßen knacken die Eicheln, buntes Herbstlaub fällt von den Bäumen. Die Haut auf Jafaris Wangen ist sonnenverbrannt, seine Hand stützt sich auf einen Regenschirm, der Blick streift müde die Landstraße entlang. Aber es ist nur Jafaris Körper, der langsam sagt „Ich kann nicht mehr“, der Wille ist es, der ihn weiter treibt, der es schaffen will. Und die Hoffnung, sein Leben verändern zu können. Denn alles sei besser, als in seinem Flüchtlingslager im bayerischen Weiden zu sitzen, gefangen hinter einem Zaun, isoliert und vergessen. Aber davon soll noch die Rede sein.
Jafari ist 20 Jahre alt, er kommt aus Afghanistan, seit Anfang September ist er mit rund 30 anderen Flüchtlingen auf dem „Marsch nach Berlin“, um gegen die deutsche Asylpolitik zu demonstrieren. Über 500 Kilometer haben sie schon hinter sich, haben jede Nacht in einer anderen Herberge oder auf freiem Feld geschlafen, am Sonnabend wollen sie ihr Ziel erreichen: den Oranienplatz in Berlin, die Stadt der politischen Entscheidungen. Die Flüchtlinge, die vor allem aus dem Iran, Irak, Afghanistan oder Afrika stammen, wissen, wenn sich etwas an ihrer Lage ändern soll, wird hier der Grundstein dafür gelegt. Die Forderungen, die sie der Politik entgegenrufen, lauten so: weg mit den menschenunwürdigen Flüchtlingslagern, weg mit der Residenzpflicht, nach der sie sich nicht weiter als ein paar Kilometer aus ihrer Region rausbewegen dürfen, Schluss mit Abschiebungen, Arbeitserlaubnis und eine Beschleunigung der Asylverfahren.
In Kreuzberg erwartet
Auf dem Oranienplatz werden die Wanderer bereits erwartet: Fünf Zelte stehen schon bereit, sieben weitere sollen dazukommen. Freiwillige Helfer nageln Bretter zusammen, damit bis zu 200 Heimatlose nicht auf dem Boden schlafen müssen, es gibt ein Kochzelt, eines mit Medikamenten, eines mit Sofas. „Kein Mensch ist illegal“ steht auf Spruchbändern geschrieben. Hier wollen die Aktivisten so lange ausharren wie möglich. Die vergangenen vier Wochen betrieben sie ein Informationszelt auf dem Heinrichplatz, um den Empfang des Flüchtlingsmarsches vorzubereiten, aber auch um mitten in Kreuzberg sichtbar zu machen: Wir wollen niemanden aussperren, Menschen sind in Deutschland willkommen.
Wenn es um Flüchtlingspolitik geht, kommt man schnell auf große Fragen zu sprechen. Wem gehört Europa? Denen, die das Privileg der Geburt haben, in Ländern ohne Krieg, politische Verfolgung, Hunger, Armut und Hitze geboren worden zu sein? Nein, finden die Flüchtlinge, und klopfen von allen Seiten lautstark an Europas Pforten. Doch wie soll die EU mit den Zuwanderern umgehen? Grenzländer wie Spanien, Italien und Griechenland sind bereits restlos überfordert, schieben sich die Flüchtlinge gegenseitig zu oder schieben sie eben wieder ab.
Auch Jasin Jafari lebt täglich mit der Angst vor Abschiebung. Wäre er auf der richtigen Seite der Welt aufgewachsen, zum Beispiel in Berlin, dann könnte sein Leben so aussehen: Schule, Abitur, zweites Semester Maschinenbau, Abhängen mit den Freunden in Neukölln, Shopping in Kreuzberg, Kino in Mitte.
Illegale Einreise
Aber Jafari ist kein Jugendlicher aus Berlin, er ist ein Jugendlicher aus Afghanistan, und deshalb sah sein Leben bisher so aus: Er wächst unter dem Terrorregime der Taliban auf, als er zehn Jahre alt ist, verschwindet sein Vater spurlos, erst viel später erreicht die Familie die Nachricht seines Todes. 2001 rücken US-Soldaten und ihre Verbündeten ein, seitdem regiert der Krieg das Land. In seiner Heimatregion Bamiyan fliegen Bomben, vor seinem Haus wird geschossen, der Junge, seine Mutter und die Schwester leben täglich in Todesangst. Sie fangen an, Geld zu sparen und im Verwandtenkreis zu sammeln, einer soll es besser haben als sie, einer soll überleben. Jasin Jafari ist der Gesandte, er hat die Chance seines Lebens.
2010 flieht der 18-Jährige aus seiner Heimat, über 5000 Kilometer zu Fuß und per Autostopp, er bezahlt Schlepper, die ihn in den Iran und von dort über die Grenze in die Türkei bringen. Stundenlang harrt er in Containern in Lastwagen aus, bekommt kaum Luft, sieht nichts, weiß nicht, wo er ist. Bei jeder Bremsung schrammt er gegen die Wand. Er hört Stimmen, die in fremden Sprachen sprechen, die Angst, dass die Polizei ihn jeden Moment erwischen kann, ist sein treuester Weggefährte.
Über Griechenland und Italien erreicht er nach vier Monaten schließlich Deutschland. Er hat es geschafft, glaubt er, nun kann ein neues Leben beginnen. Doch was nun kommt, wird nur eine weitere Hölle sein, durch die der junge Mann gehen muss. Die Polizei greift ihn auf und bringt ihn nach Weiden in der Oberpfalz. Dort kommt er in eine Gemeinschaftsunterkunft. Die Flüchtlinge benutzen dieses Wort nie, sie sprechen von Lager oder Camp. Mit vier anderen teilt Jafari sich ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer, er lebt hinter einem Zaun am Rande der Stadt. An dem Leben in Weiden kann er nicht teilhaben, er spricht kein Deutsch, niemand interessiert sich für ihn. Um seine monatliche Leistung in Bayern zu erhalten, muss er einem Ein-Euro-Job nachgehen. Also reinigt er täglich Straßen und Parks, streut im Winter Salz und kehrt es im Frühjahr wieder weg, „Arbeit, die kein Deutscher tun will“, sagt Jafari. Doch zu arbeiten sei besser, als nichts zu tun, den ganzen Tag herumzusitzen und nachzudenken über das eigene Schicksal. Daran verzweifeln viele, denen es geht wie ihm. Kürzlich hätten zwei Flüchtlinge in Weiden versucht, sich umzubringen. Einer von ihnen erwachte am Donnerstag aus dem Koma. Der andere ist noch in Lebensgefahr. Es ist ein guter Freund Jafaris.
Leben ohne Privatsphäre
Im Januar hat sich ein 29 Jahre alter Iraner in der Flüchtlingsunterkunft in Würzburg das Leben genommen. Sein Freitod war der Auslöser für die deutschlandweit erste Protestbewegung Asylsuchender. Aktivisten errichteten Demonstrationszelte vor dem Rathaus und traten in den Hungerstreik. Protestcamps in Regensburg, Nürnberg, Düsseldorf, Osnabrück und auf dem Heinrichplatz in Berlin folgten. Flüchtlingsorganisationen kritisieren seit Jahren die beengten und menschenunwürdigen Bedingungen in den Heimen. Auch der Berliner Flüchtlingsrat unterstützt den Protestmarsch. „Das Leben im Lager ist für die Menschen stark belastend, körperlich wie seelisch“, sagt Martina Mauer vom Berliner Flüchtlingsrat. „Die Stätten sind überfüllt, die Menschen leben auf engstem Raum und ohne Privatsphäre. Sie werden stigmatisiert.“ In Berlin gebe es zwar die begrüßenswerte Regelung, dass Flüchtlinge nach maximal drei Monaten in eine Privatwohnung ziehen dürfen, aber das sei mehr Theorie als Praxis. Es müssten trotzdem immer mehr Flüchtlinge im Sammellager leben. „Realistisch gesehen haben die Flüchtlinge auf dem engen Berliner Wohnungsmarkt keine Chance. Bei Vermietern stehen sie immer ganz unten auf der Liste, da sie meist nicht finanziell abgesichert sind, einen unsicheren Aufenthalt haben und oft die Sprache nicht können.“ Der Senat müsse sich schleunigst darum kümmern. Etwa 10.000 Flüchtlinge leben in Berlin, über 4000 von ihnen in städtischen Lagern.
In der Hauptstadt kommen derzeit vor allem Flüchtlinge aus Syrien, Mazedonien und Afghanistan an. Im Juli dieses Jahres stärkte das Bundesverfassungsgericht zwar die Rechte der Flüchtlinge, indem die Leistungen für Asylbewerber auf das Niveau der Sozialhilfesätze angehoben wurden. Danach bekommen Asylsuchende 346 Euro monatlich, statt bisher knapp 225 Euro. Es war die erste Anhebung der Sätze seit knapp 20 Jahren. „In vielen Bundesländern werden aber Teile des Geldes als Sachleistungen ausbezahlt statt in Bargeld, das ist eine unwürdige Bevormundung“, kritisiert Martina Mauer vom Flüchtlingsrat.
Der Marsch von Würzburg nach Berlin ist nun angekommen. Es sind überwiegend junge Männer wie Jafari, die bereits Tausende Kilometer geflohen sind, auf der Suche nach einem besseren Leben. Frauen und Kinder sind keine dabei, viele von ihnen schaffen die Flucht aus der Heimat nicht. Der Marsch birgt für die Flüchtlinge ein neues Risiko: Weil sie gegen ihre Residenzpflicht verstoßen, machen sich die Wanderer strafbar. Doch die Polizei hielt sich zurück. Die negativen Schlagzeilen, wollte sich kein Bundesland leisten.
In Berlin will Jafari, so lange es geht, auf dem Oranienplatz bleiben. Für den 13. Oktober ist hier eine Demonstration angesetzt. Am liebsten würde er ordentlich Deutsch lernen und dann Maschinenbau studieren – dem Traum von einem besseren Leben ein Stück näher kommen.