Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) hat das Verhalten der chinesischen Regierung während des Volksaufstandes 1989 auf dem Platz des himmlischen Friedens (Tiananmen) in Peking verteidigt. Das Militär sei mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen worden und habe sich mit Waffen gewehrt, sagte Schmidt dem „Zeit“-Magazin. Die vom Roten Kreuz geschätzte Zahl der Toten von 2600 halte er für „weit übertrieben“. Botschafter in Peking hätten die Zahl viel niedriger eingeschätzt.
Es müsse berücksichtigt werden, so Schmidt, dass zu der Zeit erstmals nach langer Pause Sowjetpräsident Michail Gorbatschow in Peking zu Besuch gewesen sei. Gorbatschow habe aufgrund der Proteste die „Große Halle des Volkes“ durch die Hintertür betreten müssen. Für Chinas Staatschef Deng Xiaoping sei dies „ein enormer Gesichtsverlust“ gewesen.
„Anhänger der Nichteinmischung“
Entscheidend sei gewesen, dass China zu dieser Zeit keine kasernierte Polizei gehabt habe. Der Regierung habe zum Eingreifen somit nur das Militär zur Verfügung gestanden. Schmidt: „Und die Soldaten hatten nur gelernt zu schießen.“ Deng gelte zwar offiziell als Befehlsgeber, er sei sich aber nicht sicher, ob dies auch zutreffe, so Schmidt
Er würde auch heute noch Deng als den erfolgreichsten kommunistischen Führer der Weltgeschichte bezeichnen, sagte Schmidt. Er habe das Land nachhaltig zum Guten verändert. Die Aussage, dass in China die Freiheitsrechte zugunsten des Wohlstands „geopfert“ würden, sei falsch. Persönliche Freiheitsrechte habe es in der chinesischen Geschichte nie gegeben. Politische Vorgänge in China dürften nicht nach europäischen Maßstäben beurteilt werden.
Schmidt hatte im Sommer eine zwölftägige Reise nach China und Singapur unternommen. China gilt als eines seiner Lieblingsländer. Die Aussagen Schmidts stammen aus einem Interview in einer Reihe von Gesprächen, die Schmidt zwischen September 2009 und August 2012 mit „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo geführt hatte und die vor Kurzem in dem Buch „Verstehen Sie das, Herr Schmidt?“ veröffentlicht worden sind.
In dem Gespräch über China ging es auch um Mao Tse-tung. Über ihn sagte Schmidt: „Mao hat die Toten nicht gewollt.“ Die vielen Millionen Hungertoten seien die unvorhergesehene Folge des Großen Sprungs gewesen, also des Versuchs, die Bauern dazu zu bringen, aus Schrott Stahl zu schmelzen statt Reis oder Weizen zu ernten. Maos Macht, so Schmidt, sei zu groß gewesen. „Aber in der Geschichte gibt es immer wieder Menschen, deren Macht zu groß ist. Das gilt für Nero oder Dschingis Khan, es gilt für Pizarro und für alle kolonialen Eroberer. Es gilt auch für Mao.“
Zum Ende des Gesprächs zwischen Schmidt und di Lorenzo ging es noch einmal um die generelle Haltung des Altkanzlers zu Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Führung. „Ich bin ein Gegner von allen Menschenrechtsverletzungen“, sagte Schmidt, „aber ich bleibe ein Anhänger der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates.“ Egal, was die Mächtigen anstellen würden. Auf die Nachfrage, ob auch Auschwitz für ihn keine Pflicht zur Intervention begründe, sagte Schmidt, er komme hier in ein Gebiet, auf dem ihm die Antworten schwerfallen würden. Es habe in der Geschichte der Menschheit mehrfach Fälle von Genozid gegeben. Die fabrikmäßige Ermordung von sechs Millionen Juden sei aber ein neuartiges Kolossalverbrechen gewesen, das nach neuen Antworten verlange. „Aber ich bin nicht derjenige, der die Antworten geben kann“, so Schmidt. Die allgemeine Redensart von der „responsibility to protect“ sei jedenfalls keine ausreichende Antwort.