- Berliner Kliniken und Gesundheitsexperten befürchten wegen des Göttinger Organspendeskandals einen weiteren Einbruch der ohnehin rückläufigen Zahl an Spenderorganen und Transplantationen. "Der Fall in Göttingen macht mich zutiefst betroffen", sagte Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) der Berliner Morgenpost. "Es bleibt zu hoffen, dass sich dieser Einzelfall nicht langfristig negativ auf das Vertrauen in die Organspende auswirkt. Sofern sich der Verdacht auf Fälschung der Patientenakten bestätigt, muss dies konsequent geahndet werden. Aber wir sollten nun nicht das gesamte System der Organtransplantation infrage stellen."
Czajas Appell lautet: "Die Berlinerinnen und Berliner sind weiterhin dazu aufgerufen, sich mit der Frage der Organspende auseinanderzusetzen und ihre Entscheidung auf einem Organspendeausweis zu dokumentieren." Er dankte ausdrücklich all jenen, die sich "weiterhin zu einer Organspende bereit erklären, denn sie schenken anderen Menschen die Chance auf einen Neuanfang".
Tatsächlich hat man an den in das System der Organspende eingebundenen Berliner Kliniken aber die Sorge, dass die Fallzahlen weiter signifikant nach unten gehen. "Es steht zu befürchten, dass das Vertrauen der Berliner in das gesamte System der Organspende sinkt. Das ist ganz schlecht, gerade in einer Zeit, in der die Krankenkassen jeden Versicherten aufrufen, sich mit diesem Thema zu befassen", sagte Professor Walter Schaffartzik, Ärztlicher Leiter am Unfallkrankenhaus Berlin (UKB). Dabei komme es im UKB - das bei den Organspenden in Deutschlands Nordosten einen Spitzenplatz einnimmt - ohnehin "immer noch zu selten" zu Entnahmen. Das hänge nicht nur mit dem erfreulichen Umstand der erhöhten Verkehrssicherheit zusammen, sondern auch damit, "dass Menschen mit Spenderausweis weiterhin die absolute Ausnahme sind". Und Göttingen ist keine Werbung: Gegen den früheren Leiter der dortigen Transplantationsmedizin ermitteln Staatsanwälte wegen Bestechlichkeit. Der Ex-Oberarzt soll Laborwerte seiner Patienten gegen Geld in den Unterlagen für Eurotransplant gefälscht und so dafür gesorgt zu haben, dass diese beim Empfang von Spenderlebern bevorzugt wurden.
Transplantationen im eigentlichen Sinne werden in Berlin ausschließlich von den Experten am Deutschen Herzzentrum (DHZB, spezialisiert auf Herz und Lunge) sowie an der Charité (Niere, Pankreas, Leber und Dünndarm) durchgeführt. Andere Kliniken wie das UKB oder das Vivantes-Klinikum in Friedrichshain bieten lediglich die Möglichkeit der Entnahme von Organen an, die dann über die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) und die Vermittlungsstelle Eurotransplant zu ihren Empfängern gelangen - und so oft Leben retten. Doch auch das Herzzentrum ruft inzwischen den Notstand aus. "Von den frühen 90er-Jahren, als wir bisweilen pro Jahr mehr als hundert Patienten ein neues Herz schenken konnten, sind wir leider weit entfernt", sagt Sprecherin Barbara Nickolaus.
"Schlag ins Kontor"
Hätten die Chirurgen des Herzzentrums 1998 immerhin 77 Herzen und 26 Lungen verpflanzt, seien es 2011 nur noch 34 Herzverpflanzungen und 28 Lungentransplantationen gewesen. Auch im neuen Jahr sieht es nicht besser aus: "Bis Mai haben wir zehn Herzen und 16 Lungen transplantiert." Vor diesem Hintergrund sei Göttingen "ein verheerender Schlag ins Kontor". Denn es sei ohnehin ein schwieriges Unterfangen, mit Menschen, die um verstorbene Angehörige weinen, über mögliche Organentnahmen zu sprechen. Tatsächlich sagten im vergangenen Jahr nach DSO-Angaben in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern insgesamt 43,2 Prozent der befragten Angehörigen Nein zur Organspende. Dabei warten in ganz Deutschland 12.000 Menschen auf Hilfe. Rettung verspricht manchmal die moderne Technik, wie sie etwa am Deutschen Herzzentrum mit Kunstherzen praktiziert wird. Doch die Erfolge sind mit echten Organen in der Regel größer, weshalb die Kassen die Kosten erstatten. Eine Herz- oder Lungentransplantationen schlägt mit 350.000 Euro zu Buche, ein Kunstherz kostet 70.000 Euro.
"Vorfälle wie in Göttingen sind für einen unaufgeregten Umgang mit dem Thema Organspende nicht hilfreich. Sie schaden vor allem den hilfsbedürftigen Mitmenschen, die ohne ein Spenderorgan keine Chance auf ein normales Leben haben", sagte Werner Wyrwich, Vorstand der Ärztekammer Berlin. Zwar könne es auch in der Hauptstadt keine "absolute Sicherheit" vor Kriminellen in Kliniken geben. Doch seien immer mindestens zwei Ärzte mit der Betreuung von potenziellen Organempfängern betraut. Dieses Vier-Augen-Prinzip erschwere Manipulationen. Grundsätzlich sei die Qualität der in Berlin durchgeführten Transplantationen "sehr hoch". Doch auch an der Charité spürt man Veränderungen. Wurden dort 2010 noch 98 Lebertransplantationen durchgeführt, waren es zuletzt 91. Noch eklatanter fiel der Rückgang bei den Nierentransplantationen aus - die Zahl sank von 199 auf 162. Doch es gibt auch einen Hoffnungsschimmer. Denn zumindest die Zahl der lebend gespendeten Nieren nahm von 58 auf 78 zu. Da mag der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier, der seiner Frau in der Charité 2010 eine seiner Nieren spendete, manchen als Vorbild gedient haben.