Integrationsbericht: Bei Kindern von Migranten zeichnet sich eine Bildungsrevolution ab

- An seine Einschulung in Berlin erinnert sich Enver Büyükarslan mit Schaudern. Ein halbes Jahr zuvor war der damals Sechsjährige aus Anatolien nach Deutschland gekommen. Er sprach fließend Kurdisch, etwas Türkisch - und kein Wort Deutsch. Der kleine Junge hatte als einziges Kind keine Schultüte dabei und blickte sehnsüchtig auf die Süßigkeiten, die die anderen Schulanfänger geschenkt bekamen. "Ich wurde damals ins kalte Wasser geschmissen", sagt Enver Büyükarslan. Die Schulkameraden mieden ihn, weil sie sich nicht mit ihm unterhalten konnten. Er wurde verhaltensauffällig, flog von der Schule.

Er hätte wohl als Schulversager geendet, wenn er nicht in der 5. Klasse beschlossen hätte, "sich am Riemen zu reißen". Ein richtiger Streber sei er geworden. Obwohl er schon zu Schulzeiten jobbte, schaffte er einen guten Realschulabschluss. Auch die anschließende Lehre bei der Deutschen Bahn zum Elektrotechniker verlief reibungslos. Doch sein Ehrgeiz trieb ihn weiter: als Quereinsteiger in die Bankwirtschaft, zur Automobilbranche und schließlich ins Immobiliengeschäft.

Heute leitet Enver Büyükarslan sein eigenes Unternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern - und ist längst in der deutschen Mittelschicht angekommen. Seine beiden Kinder, Can und Yezda, sollen es leichter haben als er. "Eine gute Bildung hat für uns deshalb oberste Priorität", sagt der Vater. Der neunjährige Can besucht eine private Ganztagsschule. Als der Junge Probleme in Mathematik hatte, ließ die Mutter einen Nachhilfelehrer kommen. Die kleine Schwester geht schon seit dem zweiten Lebensjahr in eine Kindertagesstätte. Und die Familiensprache ist ganz selbstverständlich Deutsch - ein Großteil der Freunde ebenfalls.

Der Erfolg der Büyükarslans zeigt, dass Integration gelingt, wenn die Leistungsbereitschaft groß ist. Die Zuwanderer kommen nach Deutschland, damit es ihnen und ihren Kindern einmal besser geht. Der Schlüssel zum sozialen Aufstieg ist eine gute Bildung. Und hier zeichnet sich in den vergangenen Jahren ein sehr positiver Trend ab, wie der 9. Integrationsbericht der Bundesregierung zeigt, der am Mittwoch vom Kabinett beschlossen wird und der Morgenpost vorab vorliegt.

Mehr Kinder mit Hochschulreife

Seit 2005 habe es "maßgebliche Fortschritte" gegeben, lobt die Integrationsbeauftragte der Regierung, Maria Böhmer, im Vorwort. So besuchten immer mehr Kinder mit Migrationshintergrund eine Kindertagesstätte. Die Zahl der Schulabbrecher unter den Migrantenkindern sinke, während die Zahl der Zuwandererkinder mit höheren Bildungsabschlüssen steige, so die Staatsministerin im Kanzleramt. Die Statistiken zeigen, dass der Abstand zur deutschen Bevölkerung zwar nach wie vor beträchtlich ist. Doch die Zuwanderer holen auf. Nach dem Aufstieg der Mädchen in Schulen und Universitäten findet die nächste Bildungsrevolution zurzeit, fast unbemerkt, bei den Migranten statt.

Für die Zukunft Deutschlands ist die Integration von entscheidender Bedeutung. Jedes dritte Kind unter fünf Jahren hat einen Migrationshintergrund. Sie in Zukunft erfolgreicher in den Arbeitsmarkt zu integrieren ist angesichts des wachsenden Fachkräftemangels unabdingbar, wenn Deutschland weiterhin als Wirtschaftsnation in der ersten Liga spielen will.

Da mit der frühkindlichen Bildung die ersten Weichen für die spätere Schulkarriere gestellt werden, wertete es der Bericht als großen Erfolg, dass immer mehr Kleinkinder aus Zuwandererfamilien eine Krippe besuchen. Zwischen 2008 und 2011 nahm hier der Anteil um 53 Prozent und damit deutlich stärker zu als bei deutschen Kindern (39 Prozent). Mittlerweile wird jedes siebte Zuwandererkind unter drei Jahren in einer Kita betreut. Fast aufgeschlossen zu den deutschen Kindern haben die Zuwanderer, wenn es um die Kindergartenplätze für die Drei- bis Sechsjährigen geht: Hier liegt die Betreuungsquote bei 86 Prozent.

In Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. "Schrittweise nähern sich die schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund jenen ohne Migrationshintergrund an", heißt es in dem Integrationsbericht. Auch würden mehr Ausländer die Schule mit Hochschulreife verlassen. Dabei gibt es erhebliche ethnische Unterschiede. Am erfolgreichsten schneiden russische Kinder ab, die mit den einheimischen Schülern schon gleichgezogen haben. Bei italienischen und türkischen Schülern ist der Abstand dagegen größer.

Allerdings liegt dies laut Studie nicht an den ausländischen Wurzeln, sondern an der sozialen Herkunft. Seltener als in anderen Ländern gelangt hierzulande ein Arbeiterkind bis zum Abitur. Da ausländische Kinder im Durchschnitt in sozial schwächeren Familien leben als deutsche, spiegelt sich dies in den Bildungskarrieren wider. Vergleicht man jedoch die Kinder, die aus ähnlichen Einkommens- und Bildungsmilieus stammen, so kommen die Migranten sogar weiter. Der Grund: Ihre Eltern streben bei gleichen Noten einen höheren Bildungsabschluss für ihre Sprösslinge an als deutsche Eltern.

Dies gilt besonders dann, wenn die Kinder schon in Deutschland geboren wurden. Diese Jugendlichen der zweiten Generation besuchen bei gleichen sozialen Lebensumständen sogar deutlich häufiger die gymnasiale Oberstufe als ihre Altersgenossen ohne Migrationshintergrund. Die Experten attestieren den Ausländern eine "höhere Bildungsaspiration". Dieser Wunsch, dass es den Kindern einmal besser gehen soll, ist die beste Voraussetzung für einen sozialen Aufstieg.

Auch wenn der Abstand schmilzt, so ist doch der Anteil der Hauptschüler und der Schulabbrecher unter den Migranten weiterhin deutlich höher als unter den Deutschen. Eine wenig erfolgreiche Schullaufbahn muss jedoch nicht zwangsläufig in die Arbeitslosigkeit führen. Die 24-jährige Maizuhn Abu Hatab hat arabische Wurzeln. Sie ärgert sich heute, dass sie sich in der Schule nicht mehr angestrengt hat: "Obwohl ich eigentlich gut in der Schule war, hatte ich am Ende einfach keine Lust mehr."

Zufrieden mit der Position

Nur mit Hauptschulabschluss bekam sie keine Lehrstelle. Das Jobcenter verordnete ihr schließlich eine berufsvorbereitende Maßnahme, um sie fit für eine Ausbildung zur Hotelkauffrau zu machen. "Ich merkte schnell, dass mir dieser Job liegt - obwohl mein Traumberuf früher eigentlich Polizistin war", sagt die Berlinerin. Die dreijährige Ausbildung sei eine schöne, aber auch harte Zeit gewesen. "Ich bin zufrieden, dass ich das geschafft habe", sagt Maizuhn Abu Hatab. Und sie ist stolz darauf, ungewöhnlich rasch eine höhere Position als Front Office Superviser erklommen zu haben.

Bildung und Arbeit sind die besten Voraussetzungen für eine gelungene Integration. Doch für Enver Büyükarslan gehört noch mehr dazu - zum Beispiel, sich auf die Traditionen der neuen Heimat einzulassen: "Wir lieben das Weihnachtsfest, obwohl wir Muslime sind. Die Kinder fühlen sich in ihrem kosmopolitischen Umfeld wohl, Klassenfahrten und Sportverein sind selbstverständlich - genauso wie bei anderen deutschen Kindern auch."