Plötzlich apathisch
Seit dem vergangenen Spätsommer ist etwas anders mit dem alten Mann, der in einem Heim einer großen Pflegekette lebt. Seither wechselt sein Zustand von einem Tag auf den anderen. "Wenn wir meinen Vater besuchen, guckt er oft nur noch durch mich durch", sagt seine Tochter. Er hänge apathisch in seinem Rollstuhl, die Arme schwer und leblos wie die einer Puppe, mit hängendem Unterkiefer. Selbst wenn man an seinen Schultern rüttle, reagiere er nicht. Als sein Enkel, selbst Altenpfleger, den Großvater zum ersten Mal in diesem Zustand sah, sagte er zu seiner Mutter: "Der Opa ist mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt." Auf die Frage, was sie ihm gegeben habe, sagte die diensthabende Pflegerin: "Der ist nur müde. Nachts schläft er ja nicht, irgendwann holt sich der Körper eben den Schlaf." Endgültig hellhörig wurden die Verwandten, als das Heim ankündigte, für den alten Herrn Moser die höchste Pflegestufe beantragen zu wollen, Stufe 3. Schließlich könne er gar nichts mehr allein machen.
In Deutschland müssen fast eine Viertelmillion Menschen Psychopharmaka schlucken, ohne dass damit Krankheiten behandelt werden sollen. Zu diesem Ergebnis kommt das Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen. Laut Berechnung für die Berliner Morgenpost werden knapp 240.000 Demenzkranke in Heimen oder in ambulanter Pflege mit Medikamenten behandelt, um sie ruhigzustellen. "In diesen Fällen werden die Medikamente nicht verschrieben, um die Leiden der Patienten zu lindern, sondern um Personal einzusparen und somit den Heimbetreibern höhere Gewinne zu bescheren", sagt der renommierte Bremer Sozialforscher Professor Gerd Glaeske.
Laut der Berechnung des Bremer Forschers werden von den bundesweit 1,1 Demenzpatienten knapp 360.000 mit Neuroleptika behandelt. Britische Studien ergaben, dass in zwei von drei Fällen die starken, verschreibungspflichtigen Medikamente zu Unrecht verordnet wurden und sich durch eine bessere Betreuung der Betroffenen hätten vermeiden lassen. Die Zahlen, sagt Glaeske, ließen sich auf Deutschland übertragen. Die Verschreibung von Psychopharmaka, um Demenzkranke ruhigzustellen, bezeichnen Glaeske und andere Pflegeexperten als "chemische Gewalt". Die Gabe von Medikamenten ohne Einwilligung des Patienten oder der Angehörigen sei vergleichbar damit, wenn Patienten ohne richterliche Anordnung ans Bett oder den Stuhl gefesselt würden.
Der Sozialverband VdK, der auch die Interessen alter Menschen vertritt, fordert, deutlich mehr Geld in die Pflege zu stecken, um das Massenphänomen der Medikation einzudämmen. "Demenzkranke haben einen hohen Betreuungsbedarf, weil sie oft einen starken Bewegungsdrang und sogenannte Weglauftendenzen haben", sagte VdK-Präsidentin Ulrike Mascher.
Umbau vieler Pflegeheime nötig
Auch müssten in den kommenden Jahren viele Pflegeheime umgebaut werden, um der steigenden Zahl an Demenzkranken gerecht zu werden: Die Erfahrung in Pilotprojekten zeige etwa, dass kleine Wohngruppen mit fünf Bewohnern eine bessere Versorgung liefern könnten als die bisher verbreiteten Stationen mit 20 Bewohnern.
Das Bundesgesundheitsministerium verwies darauf, dass die Entscheidung über die Medikation Demenzkranker bei den behandelnden Ärzten liege. Im Rahmen der von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr geplanten Pflegereform seien jedoch Regelungen geplant, um die Zusammenarbeit zwischen Heimen und Ärzten zu verbessern.
Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Karl Lauterbach, kritisierte, Bahr habe bisher lediglich eine neue Kommission eingesetzt, "derweil die Dementen mit Psychopharmaka gefüttert werden". Für die SPD-Bundestagsfraktion trägt die Bundesregierung ohnehin einen großen Teil der Verantwortung für diesen Skandal, weil sie für die finanzielle Absicherung Demenzkranker bisher zu wenig getan habe. "Weder Herr Rösler noch Herr Bahr haben auch nur einen Handschlag für die Dementen getan", meint Lauterbach. Auch in seinem neuen Gesetzesentwurf sehe Minister Bahr "allenfalls ein kleines Almosen für die Dementen vor".