Amokläufe geschehen meist nicht aus heiterem Himmel. Oft gibt es im Vorfeld Hinweise. Kleine Auffälligkeiten im Verhalten eines Schüler etwa, Details nur - die jedoch ein erschreckendes Bild ergeben, sobald man sie zusammenfügt. Hier setzt Vincenz Leuschner, Sozialwissenschaftler an der Freien Universität, mit einem Projekt namens Netwass (Networks against School Shootings) an.

Es wird derzeit an mehr als 100 Schulen in drei Bundesländern erprobt. Netwass will helfen, Attentate zu verhindern. Unter 030/61 00 62 gibt es etwa für Schulmitarbeiter Beratungen zum Thema. Mit Leuschner sprach Stefan Beutelsbacher.

Berliner Morgenpost: Herr Leuschner, woran erkennt ein Klassenlehrer einen möglichen Amokläufer?

Vincenz Leuschner: Um es gleich vorwegzusagen: Es ist unmöglich, ein unverwechselbares Täterprofil zu erstellen. Es gibt aber einige Verhaltensauffälligkeiten, bei denen der Lehrer hellhörig werden sollte. Zum Beispiel, wenn ein Schüler in seinen Aufsätzen Gewaltfantasien beschreibt. Oder wenn einer übermäßiges Interesse an Waffen zeigt. Auch wenn sich ein Jugendlicher stark zurückzieht, weil er vielleicht gehänselt wird, sollte der Pädagoge genauer hinsehen. Mobbing ist das klassische Motiv für schwere Gewalttaten an Schulen. Ganz besondere Vorsicht ist geboten, wenn ein Schüler frühere Amokläufer verherrlicht. Das ist gleichsam die Flucht in den Kreis der Ausgegrenzten, die Identifikation mit gewaltbereiten Eigenbrötlern.

Berliner Morgenpost: Nicht selten erkennen Lehrer derartige Verhaltensauffälligkeiten auch, nehmen sie aber schlichtweg nicht ernst genug ...

Vincenz Leuschner: ... das stimmt, und der Grund ist: Ihnen fehlt die Gesamtschau. Jeder sieht nur einen Ausschnitt. Lehrer A erfährt, dass der Schüler zu Hause am Computer nur Ballerspiele einlegt. Lehrer B weiß, dass derselbe Schüler schon einmal Selbstmordgedanken hatte. Für sich genommen begründen diese beiden Auffälligkeiten aber noch keinen Amoklauf.

Berliner Morgenpost: Es braucht also jemanden, der die Puzzleteile aneinandersetzt.

Vincenz Leuschner: Ja, denn erst dann entsteht das große, erschreckende Bild. Und genau hier muss Prävention ansetzen: Einer muss den Überblick haben. Es muss eine Person an der Schule geben, die sämtliche Hinweise bündelt, um sie in der Gesamtheit zu bewerten. Einen zentralen Ansprechpartner, an den die Lehrer ihre einzelnen Beobachtungen weitergeben können. Das ist auch der Ansatz unseres Projekts Netwass, das wir gerade in Berlin, Brandenburg und Baden-Württemberg erproben. Die Idee ist, mit eben solchen Ansprechpartnern die Lehrer zu unterstützen.

Berliner Morgenpost: Täuscht der Eindruck, oder steigt die Zahl der Schulattentate beständig an?

Vincenz Leuschner: Tatsächlich lässt sich nicht eindeutig belegen, dass es heutzutage mehr Fälle von schwerer Gewalt an Schulen gibt als früher. Was sich aber sagen lässt, ist, dass die Zahl der Androhungen von Amokläufen wächst. Rund 130 gab es 2009 in Berlin. Neuere Daten liegen uns noch nicht vor. Unter den Drohenden sind viele Trittbrettfahrer, denn die vergangenen Amokläufe, Winnenden, Columbine, Erfurt, sie alle haben etwas Schlimmes bewirkt: dass die Amokläufer von morgen nun konkrete Szenarien im Kopf haben, wie es gehen kann.