Regierungssprecher

Heute tritt Merkels neuer Verkäufer an

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Jörn Lauterbach

In den späten 60er-Jahren hielt laut Umfragen eine Mehrheit der Deutschen den "Tagesschau"-Chefsprecher Karl-Heinz Köpcke für den offiziellen Regierungssprecher. So exakt im Detail, so unbeteiligt in Ton und Mimik, das musste ein Behördenmensch sein.

Als er eines Tages mit Oberlippenbart erschien, gab es einen Zuschaueraufstand, denn ein Mensch mit unkontrolliertem Haarwuchs war an dieser Stelle nicht erwünscht. Der Nachrichtenmann Steffen Seibert würde sich wohl nie einen Schnauzer stehen lassen, aber mit Köpcke teilt er den sonoren Gleichmut, mit dem er kurz und präzise die Welt da draußen ins Wohnzimmer transportierte. Und Sprecher der Bundesregierung wird er mit dem heutigen Tag tatsächlich.

Und nicht nur das. Wer in seinem Vorzimmer anruft, dem wird etwas von einem Faststaatssekretär Seibert erzählt, der sich gerade diverse Wohnungen anschaut und den ganzen Tag Gespräche führt. Am Telefon ist er später nur kurz zu fassen: Er freue sich sehr auf das neue Amt, arbeite sich in die Tiefen der wichtigsten Politikfelder ein, treffe Menschen. Heute wird ihm Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) die Ernennungsurkunde überreichen, erst am Montag kommt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aus dem Urlaub zurück, dann wird er erstmals an jenem Mikrofon in der Bundespressekonferenz sitzen, an dem die Sicht des Kanzleramts auf die Geschehnisse der Welt geschildert wird. Von Afghanistan bis Zwist in der Koalition, also fast alles so wie beim "Heute-Journal". Nur andersherum.

Schon oft wurde Journalisten dieses Amt übertragen, aber nie war einer schon bei Amtsantritt in einer großen Öffentlichkeit so populär - und so beliebt - wie Seibert. Er verdankt das einer ZDF-Vorzeigekarriere, wie sie so nur sehr wenige hinbekommen.

Der 50-Jährige gehört einer neuen Generation der öffentlich-rechtlichen Journalisten an, die kaum mehr darauf erpicht war, sich selbst stärker als die Nachricht zu transportieren. So kommen einerseits keine erinnerungswürdigen Sternstunden zustande, nichts, was in Rückblicken auf Fernsehjahrzehnte eine Einblendung wert wäre. Was kam, wurde souverän wegmoderiert, etwa so, wie es die Pilawas und Geißens der TV-Welt im Unterhaltungsbereich auch machen. Gepaart mit einer Grundfreundlichkeit, einem jungen Charme, transportiert von warmen Augen und weich geschwungenen Lippen, ist Seibert andererseits wie geschaffen für den Flachbildschirm und das hochauflösende Fernsehen.

Verzicht auf Selbstdarstellung

Der ehemalige Regierungssprecher Klaus Bölling (1974 bis 1982), auch Journalist, ätzte deswegen jüngst in Richtung Nachfolger, nannte ihn einen "Darsteller im Nachrichtenjournalismus", dabei sei es doch wichtig, ein "political animal" zu sein. Das Tier im Mann ist bei Seibert, der bisher im nahen Regierungsumfeld nicht tätig war, tatsächlich eher schwer zu erkennen. Der ganze Apparat in Berlin ist ihm fremd, ein eigenes Sekretariat, sauber gekennzeichnete Mappen auf seinem Tisch. "Vorgänge" eben, die es im Journalismus so nicht gibt. Da gibt es Geschichten. Wie jene des Aufsteigers Philipp Rösler (FDP), der als Bundesgesundheitsminister gerade stark in der Kritik steht. Einer, der viele Vorgänge produziert. Mit ihm traf sich Seibert gestern zum Kennenlerngespräch, um die Sicht der Dinge aus der Welt der anderen Seite, die jetzt plötzlich auch seine ist, zu erfassen.

Seibert stand als Journalist für eine Generation, die eine stärkere Unabhängigkeit von Parteien pflegt. Anders als jene, die noch wegen oder trotz Willy Brandt & Co. diesen Beruf gewählt haben, ist Seibert in der Kohl-Ära in den Beruf eingestiegen und konnte bald erkennen, dass spätestens nach dem Mauerfall die Bedeutung des Lagerdenkens nachließ und globale Themen das Leben stärker bestimmen als der Beschluss eines Parteitags in einer muffigen Stadthalle. Seibert hat sich selbst als Wechselwähler zu erkennen gegeben, der außer bei der Linken schon überall mal sein Kreuz gemacht hätte. Und wichtig ist dem Vater von drei Kindern auch sein Engagement für Unicef, der Blick über den Tellerrand. Als "geruchsneutral" bezeichnete ihn die "Zeit" wegen dieser adretten Unbestimmtheit. Merkel wird gerade dies gefallen haben. Denn ähnlich wie bei Spitzensportlern, die sich vor der Kamera nicht mehr blamieren und ihren Fokus so professionell wie nie auf ihre eigentlichen Aufgaben legen, hat der Verzicht auf Selbstdarstellung auch Kräfte für die eigentlich wichtigen Seiten des Berufs freigesetzt.

Seibert gilt als sehr schnell im Erkennen von wichtigen Themen, seine Auffassungsgabe wird auch im zu Eitelkeiten neigenden ZDF-Kosmos allenthalben gelobt. Der Historiker und Literaturwissenschaftler bereitet sich professionell auf jedes Thema vor, erkennt Zusammenhänge und entwickelt daraus die richtigen Fragen, die dem Gegenüber wenig Raum für Ausflüchte geben, ihn aber auch nicht an den Pranger stellen. Es sollen gerade jene Fähigkeiten gewesen sein, die ihn nach einigen gemeinsamen Veranstaltungen auf Merkels Watchlist brachten.

Ein Experiment wird es dennoch für beide Seiten, aber gerade die Regierungschefin hat in ihrer derzeitigen Lage ohnehin kaum noch etwas zu verlieren. Und Seibert ließ sich vorsichtshalber ein Rückkehrrecht vom ZDF vertraglich zusichern. Der Seitenwechsler - er war auch einst als Protestant zum Katholizismus konvertiert - würde dann zwar kaum noch als politischer Journalist auftreten können. Ein Sprecherposten oder eine andere Leitungsfunktion wäre aber denkbar.

Verlockendes Angebot

Tatsächlich stehen die Chancen allerdings gar nicht schlecht, dass das Gespann Merkel/Seibert ähnlich gut funktionieren könnte wie die Vorgängerpaarung der Kanzlerin mit Ulrich Wilhelm, der den umgekehrten Weg geht und Intendant des Bayerischen Rundfunks wird. Seibert weiß, wie er die Sätze und Botschaften so formulieren muss, dass sie für die Fernsehnachrichten ohne große Bearbeitung zu gebrauchen sind. Er ist gelassen, freundlich im Ton. Und zumindest für eine gewisse Zeit wird er für die Zuschauer auch immer noch als der distanzierte Journalist durchgehen, den sie seit Jahren kennen. Das kann bei der Vermittlung von schwierigen Botschaften durchaus von Vorteil sein. Regierungssprecher und Fernsehmoderator in einem - das hat es seit Köpcke nicht mehr gegeben. Dass Seibert aber eines Tages noch höher hinaus will als bisher, muss seine neue Arbeitgeberin indes nicht befürchten. Den einzigen Flop seiner Karriere landete Seibert nämlich mit der ZDF-Show "Ich kann Kanzler".