Deutsche suchen Gott ohne die Kirche

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Frank Diering

Berlin - Die Deutschen sind ein überwiegend gläubiges Volk. Gefragt, ob sie an einen Gott glauben, antworteten 65 Prozent mit Ja. Genau ein Drittel der Bevölkerung allerdings ist im Herzen atheistisch. Dabei bleibt die Republik auch noch 15 Jahre nach der Wiedervereinigung tief gespalten. Während im ehemals sozialistischen Ostdeutschland 77 Prozent der Befragten an keinen Gott glauben, bezeichnen sich in Westdeutschland nur 22 Prozent als nicht gläubig. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, die Demoskopen von TNS Emnid im Auftrag der Monatszeitschrift "Reader's Digest" unter 1001 Deutschen ermittelt haben.

Gläubige wie Ungläubige eint aber ein liberales Denken. So halten 61 Prozent den Glauben für Privatsache - weder die Kirchen noch religiöse Gemeinschaften können ihrer Meinung nach verbindlich über Glaubensinhalte entscheiden. Und während weitere 29 Prozent solche Fragen ohnehin für völlig unwichtig halten, steht lediglich für sieben Prozent der Deutschen fest, daß es Glauben nicht ohne ein Bekenntnis zu einer Kirche oder religiösen Gemeinschaft geben kann, die über Glaubensinhalte entscheidet.

Die Deutschen bleiben mehrheitlich dem Geist der Aufklärung treu. Im Sinne der "Ringparabel" von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) vertreten 70 Prozent die Auffassung, daß alle Religionen gleich sind und keine einer anderen überlegen ist; nur 22 Prozent sind anderer Ansicht.

Was die Kirchen kaum erfreuen dürfte - es überwiegt ein Glaube, wonach das Wesen Gottes "in der Natur überall gegenwärtig" ist (sagen 83 Prozent). Weniger verbreitet ist der Glaube an einen Schöpfergott, so wie ihn der Katechismus der beiden großen christlichen Kirchen lehrt. So glauben nur 23 Prozent der Deutschen an die Schöpfungsgeschichte, der zufolge der Mensch direkt von Adam und Eva abstammt. Im Gegenteil: Die Mehrheit von 71 Prozent folgt der darwinistischen Evolutionstheorie, der zufolge der Mensch sich langsam aus dem Tierreich entwickelt hat. Zum Vergleich: In den Vereinigten Staaten von Amerika ist fast jeder zweite US-Bürger von der Schöpfung als Ursprung des Lebens überzeugt. Letztlich stimmen die Vorstellungen der Deutschen von Gott wohl nicht hundertprozentig mit der christlichen Lehre der Kirchen überein. Vor die Wahl gestellt, was sie mit Gott für Begriffe verbinden, geben 82 Prozent "Natur" an, weitere 80 Prozent "Kraft", und 70 Prozent sehen Gott als eine "allgegenwärtige Kraft in ihrem persönlichen Leben". Daß die meisten Deutschen keine präzise Vorstellung von Gott haben, verdeutlicht eine weitere Frage: So sehen 75 Prozent Gott als ein Wesen, das sie erschaffen, aber mit einem freien Willen ausgestattet hat. Solch ein in der Philosophie als monotheistisch bezeichneter Gottesbegriff geht zurück auf Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Der sah in Gott den "obersten Baumeister der Natur", der "allmächtig, allwissend und allgerecht" die "beste aller möglichen Welten" erschaffen hat. Offenbar existiert für einen Teil der Deutschen solch ein Gottesbild noch immer. Dieser Gott greift "direkt in das Geschehen" auf Erden ein (glauben 26 Prozent) und zeigt "sein Mißfallen durch Katastrophen wie Erdbeben oder Seuchen wie Aids" (glaubt jeder fünfte).

Selbst wenn die Mehrheit (76 Prozent) die Vorstellung von einem derart strafenden Gott nicht teilt, bleibt für viele das Handeln Gottes allgegenwärtig. Für 56 Prozent greift er noch "indirekt über Menschen in das Geschehen" ein, für 50 Prozent wird Gott immer dann aktiv, "wenn die Menschen mit ihren Möglichkeiten am Ende sind" und für 42 Prozent handelt er "dort, wo Menschen es zulassen". Nicht zu vergessen jene 33 Prozent, die ihm ohnehin "alles zutrauen". So wundert es kaum, daß nach wie vor 59 Prozent der Ansicht sind, daß sie in Form des Gebets jederzeit die Möglichkeit der direkten Kontaktaufnahme haben; 38 Prozent sind da allerdings anderer Meinung.

Die Demoskopen fördern in der Umfrage zudem zutage, daß die meisten Deutschen ihr Seelenheil aber wohl nicht mehr in den Kirchen suchen, egal welcher Konfession sie angehören. Nur zehn Prozent der Protestanten und 23 Prozent der Katholiken gehen "regelmäßig" in die Kirche - vielleicht weil ohnehin fast jeder dritte eher an die Existenz überirdischer Wesen oder Mächte als an Gott glaubt.