Der letzte Wille

| Lesedauer: 6 Minuten
Guido Heinen

Berlin - In Reportagen taucht es immer wieder auf: das Bild eines bewusstlosen Kranken, sterbend, am Leben erhalten durch zahllose Schläuche und Maschinen. Und alle, die das sehen, sagen dann: "So will ich nicht sterben!" und wenden sich ab, als sei damit alles gesagt. Dass die Wirklichkeit unendlich komplizierter ist, hat gestern Bundesjustizministerin Brigitte Zypries eindrucksvoll dokumentiert bekommen. Nach neun Monaten legte die von ihr eingesetzte Arbeitsgruppe "Patientenautonomie am Lebensende" ihren Bericht vor - und zugleich die Lunte an eine neue gesellschaftliche Debatte über die Art, wie wir sterben können und wollen. Das 21-köpfige Gremium überreichte der Ministerin Empfehlungen zu zwei Bereichen: Wie kann der Wille eines möglichen Patienten möglichst präzise erfasst und umgesetzt werden? Und es sprach Empfehlungen für Gesetzesänderungen aus.

Der erste Punkt spiegelt wider, dass es eben mit einem einfachen "So will ich nicht sterben" nicht getan ist. So genannte "Patientenverfügungen", also Dokumente, mit denen der Mensch im Voraus bestimmt, wie er im Falle bestimmter Krankheiten behandelt oder nicht behandelt werden will, sollen das Chaos der Gefühle und Ängste am Lebensende kanalisieren und für Betreuer und Ärzte Rechtssicherheit bringen. Denn bisher weiß selbst jeder zweite Arzt nicht, worin sich - auch bereits jetzt schon - erlaubte passive und verbotene aktive Sterbehilfe unterscheiden. "Ich stehe immer mit einem Bein im Gefängnis", klagt der Chef einer großen westdeutschen Intensivstation, der täglich an der Grenze zwischen Leben und Tod arbeitet.

Derzeit existieren 180 Versionen einer Patientenverfügung, die Kommission hat nun ein Modell vorgestellt, in dem an entscheidenden Stellen zwei oder drei, sich grundsätzlich widersprechende Alternativen gewählt werden können. So muss der zukünftige Patient entscheiden, ob er künstliche Flüssigkeitszufuhr wünscht oder dies nur nach ärztlichem Ermessen oder sie sich generell verbittet. Er muss entscheiden, ob er wieder belebt werden will oder nicht, ob er künstliche Beatmung wünscht oder möchte, dass sie eingestellt wird.

Es ist ein Katalog, der vielen Menschen erst vor Augen führt, was sie da eigentlich entscheiden, etwa wenn es heißt: "Das Durstgefühl ist bei Schwerkranken zwar länger als das Hungergefühl vorhanden, aber künstliche Flüssigkeitsgabe hat nur sehr begrenzten Einfluss darauf." Die zahllosen Alternativen und Varianten - allein die gestrige Kommissionsvariante kennt rund 170 Kombinationsmöglichkeiten - überfordern nicht nur Mediziner, sondern wohl erst recht medizinische Laien.

Vor allem umstritten sind die Situationen, in denen nach Vorstellung der Kommission passive Sterbehilfe zukünftig straffrei sein soll. Sie spricht sich dafür aus, passive und indirekte Sterbehilfe straffrei zu stellen. Wenn es dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspreche, könne der Arzt lebensverlängernde Maßnahmen unterlassen oder abbrechen. Dabei ist die Kommission selbst unsicher, wann die von ihr vorgeschlagene Verfügung greifen soll. So schlägt sie vor, dass dies auch für Wachkoma-Patienten gilt - in der zugehörigen Fußnote räumt sie allerdings ein, dass es auch Fälle gebe, in denen Menschen aus diesem Koma wieder gesund erwachen: "Eine sichere Vorhersage ist nicht möglich." Für Diskussionen dürfte auch sorgen, dass die Kommission eine mündliche Form der Verfügung zulassen will. Bei einer so schwer wiegenden Entscheidung und in einem Land, in dem jeder Autokauf vertraglich geregelt ist, sei dies undenkbar, mahnen Kritiker. "Der Begriff der "mündlichen Patientenverfügung" ist untauglich", so Eugen Brysch, Geschäftsführender Vorstand der Deutschen Hospiz Stiftung.

Die Kommission, geleitet von dem früheren Vorsitzenden des Bundesgerichtshofs (BGH) Klaus Kutzer, empfiehlt zudem, dass lebensverlängernde medizinische Maßnahmen auch dann abzustellen sind, wenn die Erkrankung noch keinen tödlichen Verlauf genommen habe. Damit geht die Arbeitsgruppe über eine Einschränkung hinaus, die der BGH in einem maßgeblichen Urteil im März 2003 getroffen hatte.

Sehr detailliert befasst sich die Kommission mit Änderungen im Betreuungsrecht (BGB). Das Recht soll dahingehend geändert werden, dass ärztliche Maßnahmen, die bei Patienten, die nicht im Sterbeprozess sind, zum Tode führen, richterlich überprüft werden müssen. Das gilt zum Beispiel für Abbruch von künstlicher Ernährung bei Demenzkranken und Wachkomapatienten. Für Debatten dürfte sorgen, wie der frühere Wille und aktuell vermutete Wille von Demenzkranken festzustellen ist. Wenn jemand eine Vertrauensperson benannt hat, die entscheiden soll, falls der Kranke dazu nicht mehr in der Lage ist, müsse sich der Arzt dem Wunsch dieses Vorsorgebevollmächtigten beugen. Dies gelte auch, wenn sich Patientenvertreter und Arzt nicht einig sind.

Die Debatte läuft also an der Frage entlang, wie ein Patientenwille zu eruieren ist. Justizministerin Zypries wertet eine Patientenverfügung als Ausdruck der "Selbstbestimmung Todkranker". Dem gegenüber warnen Vertreter aus der Hospiz-Bewegung, wie etwa die Sozialwissenschaftlerin Erika Feyerabend: "Wer Patientenverfügungen rechtsverbindlich macht, erlaubt faktisch, dass Menschen, die sich nicht äußern können, auf vermutetes Verlangen getötet werden. Eine früher unterschriebene Erklärung wird so einfach als aktueller Sterbewunsch gedeutet."

Über allem schwebt die Angst vor Verhältnissen wie in den Niederlanden, wo selbst die aktive Tötung Kranker erlaubt ist. Inzwischen sind hier hohe Missbrauchsraten bekannt: Im Jahr 2001 wurden neun Prozent von 9700 Menschen medizinisch getötet, ohne dass sie dies verlangt hatten. Der Staatsanwalt erfährt, entgegen den Bestimmungen, nur von gut der Hälfte der Fälle.

Die Kommission betont hingegen, man sei sich einig, dass die Tötung auf Verlangen - also aktive Sterbehilfe und Euthanasie - "weiterhin strafbar bleiben muss, um den Schutz des hohen Rechtsgutes Leben zu gewährleisten".