Schon lange bevor die Ergebnisse der Pisa-Studie veröffentlicht worden waren, hat die Stiftung Lesen vor dem Niedergang der Bildung in Deutschland gewarnt. Über die Konsequenzen aus dem Pisa-Schock und die Frage, wie man vor allem Kindern Bücher nahe bringen kann, sprach die Berliner Morgenpost mit dem Vorsitzenden der Stiftung, Georg Ruppelt.
Herr Ruppelt, in welchem Alter haben Sie lesen gelernt?
Georg Ruppelt: Lesen gelernt habe ich erst in der Schule. Aber ich habe schon vor der Schule in Bücher geguckt, und meine Eltern und meine Großmutter haben mir viel erzählt und sehr viel vorgelesen. Eine Schlüsselerfahrung hatte ich 1954 kurz nach der Einschulung: Vor unserer Schule fuhr ein amerikanisches «book-mobile» vor, eine Fahrbücherei. Da durfte man sich alle Bücher anschauen. Ich habe mir ein Buch über einen kleinen Maulwurf ausgeliehen, ein Bilderbuch, weil ich ja noch nicht richtig lesen konnte. Das habe ich vor der Tür angeschaut und bin dann gleich wieder rein und habe mir das nächste Buch geholt. Diese Liberalität, dass die Aufsicht einen völlig in Ruhe ließ, dass man sich als Knirps selbst aussuchen durfte, welches Buch man lesen will - so bringt man die Kinder zum Lesen.
In welchem Alter sollte man mit der Leseförderung anfangen?
So früh wie möglich, in jedem Fall vor der Schule. Wenn Vater oder Mutter oder ein anderer für das Kind wichtiger Mensch vorlesen, vor dem Schlafengehen oder auf dem Schoß - all das verbindet sich mit dem Bewusstsein, dass Lesen etwas Gutes, etwas Schönes ist. Kinder sind nie zu jung für Bücher, schon Einjährige können Bücher im wahrsten Sinne des Wortes begreifen.
Und in welchem Alter sollte man lesen können?
Man muss unterscheiden zwischen der Fähigkeit, einfachste Texte zu lesen, und dem begreifenden Lesen komplizierter Texte. Das verstehende Lesen sollte man in den Jahren vor der Pubertät erlernt haben. Forscher sagen, dass sich das Fenster zum Erlernen des verstehenden Lesens nur zwischen acht und 14 Jahren öffnet. Wenn man bis dahin das verstehende Lesen nicht gelernt hat, wird es außerordentlich schwierig. Bis zu diesem Zeitpunkt muss man das Lesen üben - es ist keine angeborene Fähigkeit. Auch danach muss der Gehirnteil, der für unsere Lesefähigkeit verantwortlich ist, trainiert werden. Es gibt in Deutschland viele sekundäre Analphabeten, die das in der Schule erlernte Lesen wieder verlernt haben.
Gerade in dem Punkt hat Deutschland in der Pisa-Studie miserabel abgeschnitten. Zehn Prozent der 15-Jährigen konnten nicht einmal simpelste Texte verstehen. Wird seit dem Pisa-Schock mehr getan, um Kinder ans Lesen heranzuführen?
In Einzelfällen bewegt sich tatsächlich etwas. Es müsste aber eine bundesweite Initiative für Bildung und Lesefähigkeit gegründet werden. Die Stiftung Lesen ist der geeignete Partner dafür. Wir müssen die große Fachkompetenz der Bibliotheken nutzen. Warum geht nicht jede Klasse geschlossen in die Bibliothek und lässt sich dort alles erklären? Warum gibt es nur in 15 Prozent der Schulen Schulbibliotheken? Leseförderung muss auch schon vor der Schule anfangen. Kindergärten dürfen keine reinen Aufbewahrungs- und Bespielanstalten sein. Wir haben zum Beispiel in meiner Heimatstadt Wolfenbüttel in einem Kindergarten eine kleine Bibliothek eingerichtet. Die Kindergartenleiterin berichtete mir ganz glücklich, dass einige Kinder, die zu Hause nicht an Bücher gewöhnt waren, ihre Eltern an der Hand in diese kleine Bibliothek gezogen haben: «Guck mal, dieses Buch vom kleinen Eisbären haben wir heute vorgelesen bekommen. Kannst Du mir nicht auch etwas vorlesen?»
Können Kitas und Schulen denn das Versagen der Eltern bei der Leseförderung überhaupt ausgleichen?
Es wäre natürlich sehr viel schöner, wenn die Eltern vorlesen würden. Nur erreicht man die Eltern schlechter. Deshalb versuchen wir es über den Umweg: Die Kinder merken im Kindergarten oder in der Schule, wie schön lesen ist, und überzeugen ihre Eltern davon. Kürzlich habe ich einen Rektor und eine Lehrerin kennengelernt, die für Kinder, bei denen zu Hause nicht gelesen wird, inspiriert durch die Stiftung Lesen einen Leseclub gegründet haben. Dort wird ohne Zwang, in ganz gemütlicher Atmosphäre, gelesen. Die Kinder sind überglücklich. Die Defizite zu Hause konnten so zumindest teilweise ausgeglichen werden.
Wie erklären Sie sich, dass die Schüler anderer Länder in der Pisa-Studie so viel besser abgeschnitten haben in Sachen Lesekompetenz?
In Finnland, dem Siegerland, hat jede Schule eine hervorragende Schulbibliothek. Dort wird gelesen, aber auch gefeiert, da ist die Verbindung von Lesen und Schule etwas Selbstverständliches. Auch in den angelsächsischen Ländern spielt die Bibliothek eine ganz andere Rolle als bei uns. Da ist man stolz auf seine Bibliothek. In unserem Land schneidet man, wenn in der Kommune etwas zu kürzen ist, zuerst den Bibliotheksetat ab.
Wird das Lesen bald einer kleinen Elite vorbehalten sein?
Die Entwicklung ist tatsächlich so: Die Zahl derjenigen, die mehr als ein Buch in der Woche lesen, steigt - das sind diejenigen, die schon immer viel gelesen haben. Bei einer Menge junger Leute allerdings geht das Lesen stark zurück. Den Computer kann man dafür übrigens nicht verantwortlich machen: Vielleser sind diejenigen, die den Computer viel nutzen. Manche sprechen schon von einer Zweiklassengesellschaft: Auf der einen Seite eine Klasse, die Zugang zu allem hat - Bücher, Zeitungen, Computer. Auf der anderen Seite steht eine Schar von Uninformierten. Wer sich fünf Stunden am Tag vor dem Fernseher mit den aberwitzigsten Sendungen zudröhnt, hat keine Zeit mehr für etwas anderes.
Haben Sie noch Zeit zum Lesen?
Ich lese jeden Tag, nicht nur dienstlich. Ich kann keinen Tag einschlafen, ohne noch ein Buch in der Hand gehabt zu haben.
Können Sie sich an ihr Lieblingsbuch als Kind erinnern?
Als Kind habe ich die klassische Abenteuerliteratur verschlungen, Karl May, vor allem Robinson Crusoe. Und das Buch, das ich damals im «book-mobile» ausgeliehen habe, habe ich mir als Erwachsener sogar gekauft. Ich habe die Abenteuergeschichten des kleinen Maulwurfs tatsächlich in einem Antiquariat wiedergefunden.