Brüssel - Türkische Hoffnungen, mit dem Reformpaket die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt geschaffen zu haben, erhalten in Brüssel einen Dämpfer. Zwar wird die Annahme der Reformen von EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen begrüßt: ein «wichtiger Schritt vorwärts». Aber die Äußerung des türkischen Premiers Bülent Ecevit, die Türkei sei mit dem Gesetzespaket «allen politischen Aufnahmebedingungen nachgekommen» und erwarte nun, so bald wie möglich in die EU aufgenommen zu werden, teilt die EU-Kommission ganz und gar nicht.
«Wir werden sehr genau prüfen, was in dem Reformpaket konkret steht», sagte ein Kommissionssprecher. Die Verabschiedung der Gesetze - u. a. Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten und Stärkung der Rechte der kurdischen Minderheit - sei aber nicht gleichbedeutend mit deren Anwendung. Darum warte die Kommission ihre Umsetzung ab. Bis zur vorgezogenen Wahl im November, so schätzt man in Brüssel, werde in der Türkei kaum etwas geschehen, und wie sich die Verhältnisse danach in Ankara entwickeln - bei einem möglichen Wahlsieg der Extremisten - wolle man nicht kommentieren.
Auch im Europaparlament hält man sich derzeit zur Beitrittsperspektive der Türkei zurück. «Es gibt überhaupt keinen Handlungsbedarf», sagt der CSU-Abgeordnete Markus Ferber. «Die Regierung ist bis zu den Wahlen verhandlungsunfähig, in der Zypernfrage gibt es keinerlei Bewegung.»
Zudem ist nach Auffassung der Kommission eine große Hürde für die Aufnahme von Verhandlungen noch nicht genommen. Die Rolle des türkischen Militärs bleibt unangetastet. Ausdrücklich aber hatte die EU bei der Annahme der Beitrittspartnerschaft mit der Türkei festgelegt, dass diese «revidiert werden muss». Diplomaten in Brüssel beschreiben die Türkei immer noch als «eine halbe Militärdiktatur». Andererseits weiß die EU, dass vor allem das Militär die wichtigste Triebfeder für den proeuropäischen Kurs der Türkei ist.
Statt politischer Zugeständnisse wird die EU der Türkei bei Fortführung des Reformkurses allenfalls wirtschaftlich entgegenkommen. Schon jetzt plant die Kommission, im Herbst die so genannten Vor-Beitrittshilfen für die Türkei aufzustocken. Bislang erhält Ankara pro Jahr rund 180 Millionen Euro.
In der Regierung halten derweil die Turbulenzen an. Ecevit hat gestern drei parteilose Politiker als Minister in sein Kabinett aufgenommen, um eine verfassungswidrige Vakanz der Posten zu vermeiden. Einige Minister hatten Anfang Juli ihren Rücktritt erklärt. Den parteilosen Wirtschaftsminister Kemal Dervis forderte Ecevet auf, sich unverzüglich zu entscheiden, ob er in der Regierung bleiben oder sich in anderen Parteien politisch engagieren wolle. mdl./dpa/AFP