Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat der Union für den Fall mit Massenprotesten gedroht, dass sie nach einem Sieg bei der Bundestagswahl am 22. September die angekündigten Einschnitte im Sozial- und Tarifrecht vornimmt. DGB-Chef Michael Sommer erläutert zudem die Haltung der Gewerkschaften zu den neuen Arbeitsmarkt-Vorschlägen der so genannten Hartz-Kommission.
Herr Sommer, die SPD liegt in den Umfragen hinter der Union. Wollen die Gewerkschaften nicht doch noch Wahlkampf für die Sozialdemokraten machen?
Michael Sommer: Rot-Grün kann es schaffen, wenn sie kämpfen. Kämpfen müssen sie selber.
Die Kritik der Gewerkschaften an den Plänen der Hartz-Kommission ist verhalten. Ist das Ihr Beitrag zum Schröder-Wahlkampf?
Klar und eindeutig: Nein. Überrascht können nur diejenigen sein, die ihr Vorurteil von Gewerkschaften als Verhinderern und Blockierern pflegen. Gerade bei dem Sorgenthema Nummer eins, der Arbeitslosigkeit, haben die Gewerkschaften auch in der Vergangenheit oft neue, unkonventionelle Wege vorgeschlagen oder mitgemacht. Die Arbeit der Hartz-Kommission bietet eine Chance, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit voranzukommen, und diese Chance wollen wir nutzen. Wir sind auch deshalb konstruktiv, weil wir von den Arbeitgebern im Gegenzug erwarten, dass sie endlich die 1,5 Millionen freien Stellen der Arbeitsvermittlung melden, von denen sie immer reden.
Wie beurteilen Sie die wirtschaftspolitischen Ankündigungen der Union?
Sehr kritisch. Sollten die Unionsparteien ihre Ankündigungen umsetzen, wird es richtig Ärger geben. Wer den Kündigungsschutz angreift, das Tarifrecht beschneidet und Wahlleistungen in der Krankenversicherung einführt, wird Massenproteste erleben.
Mit Ihnen an der Spitze drängt der DGB wieder stärker auf eine Politik der «sozialen Gerechtigkeit». Was meinen Sie damit?
Ich verstehe unter sozialer Gerechtigkeit, dass Menschen so viel verdienen, dass sie vernünftig davon leben können und dass jeder eine faire Chance auf ein anständiges Leben hat. Ich verstehe unter sozialer Gerechtigkeit, dass wir in diesem Land keinen Armuts- und Reichtumsbericht mehr brauchen, weil die Armut beseitigt ist. Aber ich verstehe unter sozialer Gerechtigkeit nicht, dass jeder Millionär werden muss oder dass alle Millionäre abgeschafft werden müssen. Im übrigen: So viel ist das gar nicht, was die Menschen als das kleine Glück ihres Lebens betrachten. Eine anständige Wohnung, Zukunftschancen für die Kinder, Urlaubsreisen, Teilnahme am kulturellen Leben und die Verheißung darauf, dass man, auch wenn man zeitweise mal nicht arbeitet, später eine vernünftige Rente bekommt. Es gibt sehr viele Menschen, für die das nicht verwirklicht ist.
Setzen Sie im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit weiterhin auf eine Umverteilung von Arbeit und Arbeitszeitverkürzung?
Ja, natürlich. Aber die Beschäftigten müssen sich Arbeitszeitverkürzung auch leisten können. Hinzu kommt, dass die Menschen mehr Freiheit im Berufsleben brauchen. Die Arbeitnehmer brauchen stärkere Anreize als bisher, in Teilzeit zu gehen oder auch einmal für zwei, drei Jahre eine Auszeit aus dem Berufsleben zu nehmen, um sich weiter zu bilden, um zu reisen, um neue Energie aufzutanken oder um sich stärker der gemeinsamen Kindererziehung zu widmen. Freiwillige Auszeiten sollten durch eine Grundsicherung aufgefangen werden. Wer eine Auszeit aus dem Berufsleben nehmen will, der sollte ein steuerfinanziertes einheitliches Grundeinkommen erhalten, damit er ausreichend abgesichert ist und sein Lebensmodell verwirklichen kann. Ich sehe in dieser sozialen Grundsicherung auch einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Denn die Beschäftigten sind eher bereit, weniger zu arbeiten, wenn sie ein Grundeinkommen erhalten. Aber eine soziale Grundsicherung sollte nicht nur jenen helfen, die freiwillige Auszeiten nehmen. Sondern sie sollte auch jenem Drittel unserer Gesellschaft helfen, das droht, aus dem sozialen Zusammenhalt hinaus gedrängt zu werden.
Aber wie wollen Sie das denn finanzieren?
Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die Regierung sollte endlich Steuerschlupflöcher schließen und Steuerhinterziehung energischer bekämpfen. Dadurch ließen sich mehrere Milliarden Euro an zusätzlichen Steuereinnahmen gewinnen. Zudem sollte eine Vermögensteuer, höhere Erbschaftsteuern und eine Wertschöpfungsabgabe auf die politische Tagesordnung.
Wie sieht der Tarifvertrag der Zukunft aus?
Zuerst einmal: Tarifpolitik ist Sache der Gewerkschaften, nicht des DGB. Grundsätzlich zeichnet sich ab, dass Tarifverträge künftig den einzelnen Arbeitnehmern und den Betrieben auf der Basis eines gesicherten Mindestschutzes mehr Spielraum für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten geben müssen. Tarifverträge sollten mehr Flexibilität beim Einkommen und bei der Arbeitzeit bieten.