Die ganze Geschichte muss es sein

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Sven Felix Kellerhoff

Kann das ein Zufall sein? In derselben Woche, in der Kultursenator Thomas Flierl durch den überraschend deutlichen Beschluss des Bundestages zur Rekonstruktion der barocken Stadtschlossfassade eine Niederlage einstecken muss, bläst er zum geschichtspolitischen Gegenangriff: Der PDS-Politiker fordert die Säkularisierung der Neuen Wache, seit 1993 die zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Das künftige Holocaust-Mahnmal und die Ausstellung Topographie des Terrors auf dem Gelände der einstigen Gestapozentrale genügten, so der Kultursenator.

Natürlich hat Flierl Unrecht. Denn bei einer Beschränkung auf diese beiden Gedenkorte für Opfer der NS-Gewaltherrschaft könnte in Berlins Mitte weder der Opfer des SED-Regimes gedacht werden noch der Millionen weiterer Toten, die 1914 bis 1918 und direkt nach 1945 umkamen - zum Beispiel bei der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa. Der Verdacht liegt nahe, dass Flierl die Ausgrenzung dieser Toten aus dem offiziellen Gedächtnis zupass käme.

Über die ästhetische Qualität der heutigen Gestaltung der Neuen Wache mit der ins Monströse vergrößerten Pietà kann man auch aus dem Abstand von fast neun Jahren noch streiten. Nicht streiten dagegen sollte man über den Sinn einer zentralen Gedenkstätte für alle Opfer der Diktaturen und Kriege des 20. Jahrhunderts im Herzen der Hauptstadt. Mit der schwierigen, vielfach gebrochenen deutschen Geschichte kann nur angemessen umgehen, wer auf kurzsichtige politische Instrumentalisierung verzichtet. Gerade das zeigt die Entscheidung für die Schlossfassade.

Sie ist stadtplanerisch geboten. Dennoch beherrscht viele Kritiker ein geschichtspolitischer Affekt: Ob man mit dem Wiederaufbau des Hohenzollern-Palastes nicht einer Restauration des verfehlten Weltmachtanspruchs wilhelminischer Prägung Tür und Tor öffne?

Doch primitiv funktioniert Historie nicht. Denn Geschichte ist nicht statisch. Auch wenn sich die Vergangenheit selbst naturgemäß nicht mehr ändert, so verschiebt sich doch stetig unser Bild von der Vergangenheit. So kann das Stadtschloss, wiedererrichtet als Ergebnis einer demokratischen Entscheidung und Finanzierung, zum Symbol des neuen, friedlichen, weltoffenen Deutschland werden. Man darf sich vom nun zwangsweise aufkommenden Gemecker und der kleingeistigen Frage: «Wer soll das alles bezahlen?» nicht abschrecken lassen. Ehrliches Geschichtsbewusstsein braucht die Aneignung von Symbolen vergangener Zeiten ebenso wie das Bekenntnis zur ganzen Vergangenheit. Es genügt eben nicht, allein der Opfer der Nazi-Barbarei zu gedenken oder ausschließlich der düsteren Seiten der deutschen Historie. Gefragt ist Mut zur ganzen Geschichte.