Schlampige Gesetze führen in Deutschland zu immer mehr Rechtsunsicherheit. Das sagte der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag, der Berliner CDU-Abgeordnete und Verfassungsrechtler Prof. Rupert Scholz, im Gespräch mit der Berliner Morgenpost.
Herr Professor Scholz, wissen Sie eigentlich, wie viele Gesetze das Parlament in dieser Legislaturperiode beschlossen hat?
Prof. Rupert Scholz: Nicht exakt. Aber allein dem Rechtsausschuss, der sich mit der Mehrzahl der Gesetzentwürfe befasst, sind über 1200 Vorlagen überwiesen worden.
Kann da noch gründlich geprüft werden?
Nein, das ist eine Gesetzesmaschine. Und sie hat sich in dieser Legislaturperiode noch einmal schneller gedreht. Ein außerordentlich problematischer Vorgang.
Wie stark leidet die Qualität der Gesetze unter diesem Druck?
Das derzeit geltende Bundesrecht umfasst etwa 100 000 Paragraphen. Die kann niemand mehr übersehen, selbst der qualifizierteste Jurist nicht. Dazu kommt noch das Landesrecht. Wir leben in einem überperfektionierten Gesetzgebungsstaat, der zunehmend an Verlässlichkeit, Transparenz und Rechtssicherheit einbüßt.
Ein weiterer Standortnachteil Deutschlands?
Eines unserer Grundprobleme ist in der Tat, dass Deutschland mit einem gesetzespolitischen Überperfektionismus reguliert wird. Denkt man etwa aus wirtschaftlicher Sicht über Standortnachteile nach, dann fehlt es nicht nur an einer durchgreifenden Steuerreform. Viel schwerwiegender ist das Steuerrecht, das niemand mehr zu überschauen vermag. Das Gesetz ist in einem Rechtsstaat die höchste Rechtsquelle. Jedes Gesetz muss sich deshalb konzentrieren auf Verlässlichkeit, Rechtssicherheit, Durchschaubarkeit und damit auf Anwendbarkeit.
Wäre es wirklich so, könnte in Deutschland jedes zweite Gericht geschlossen werden . . .
Nicht grundlos wird ja kritisiert, dass sich Deutschland vom Rechtsstaat zum Richterstaat wandelt. Die reale Macht der Richter ist in der Tat außerordentlich groß. Weil die Gesetzgebung qualitativ immer schlechter, hektischer, immer momentaner, detailversessener geworden ist und damit zwangsläufig das Potenzial an Rechtsunsicherheit wächst. Mit der Konsequenz, dass der Richter letztendlich entscheiden muss.
Seit Jahrzehnten wird versprochen, die Gesetzesflut einzudämmen. Haben Sie einen Vorschlag?
Ich fordere eine Gesetzes-Folgenabschätzung. Die ist überfällig und der einzig wirksame Damm.
Was heißt das konkret?
Die Regierung, von der ja die meisten Gesetzesvorlagen eingebracht werden, muss vor jeder neuen Initiative prüfen, ob das Regulierungsvorhaben wirklich notwendig ist, ob es in dem beabsichtigten Ausmaß notwendig ist, ob es befristet sein kann und vor allem, welche kontraproduktiven Effekte es auslöst, zum Beispiel, wie hoch die gesellschaftlichen Kosten sind.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Bei jedem Umweltschutzgesetz etwa müsste gefragt werden, ob es bei zu hohen Anforderungen an die Industrie Arbeitsplätze kosten wird. Eine solche Güterabwägung im Rahmen einer qualifizierten Gesetzes-Folgenabschätzung wird in Deutschland - übrigens anders als in Amerika, in Ansätzen mittlerweile auch bei der EU und in einigen Bundesländern - leider nicht praktiziert.
Wenn es die Regierung nicht tut, warum dann nicht das Parlament, Ihr Ausschuss?
Ein Parlament selbst ist dazu nicht in der Lage. Umgekehrt. Wie in Amerika muss die Regierung mit jeder Gesetzesvorlage zugleich erklären und begründen, warum etwas geregelt wird und was es kostet. Dabei reicht es nicht, die Vollzugskosten zu benennen, ob also eine neue Behörde zur Ausführung des Gesetzes nötig ist. Es geht im weiteren Sinne um die gesellschaftlichen Kosten. Die Forderung, weniger Gesetze zu beschließen, ist in der Tat uralt. Aber es sind bisher nie Rezepte genannt worden, wie das zu erreichen sei. Ich glaube, das einzig wirksame Rezept ist eine solche Folgenabschätzung vor jeder Entscheidung über ein neues Gesetz. Ist der Nutzen, der angestrebt wird, wirklich verhältnismäßig, ist er zweckmäßig, gerechtfertigt angesichts der Überregulierung und der gesellschaftlichen Kosten.
Kommt diese Einsicht nicht etwas spät, Sie waren vier Jahre Ausschussvorsitzender?
Ich habe 1998 den vom damaligen Kanzler Kohl eingesetzten Sachverständigenrat «Schlanker Staat» geleitet. Gesetzes-Folgenabschätzung war damals eine unserer zentralen Forderungen. Am Ende der Regierung Kohl hat es erste Versuche gegeben, die dann von Rot-Grün nicht weiter verfolgt wurden. Der Rechtsausschuss wäre überfordert. Die Vorlagen kamen zudem häufig zu spät oder mit zahllosen Änderungsanträgen kurz vor Beschlussfassung im Parlament in den Ausschuss, so dass kaum Zeit zur Prüfung blieb. Und die Koalitionsmehrheit der Rechtspolitiker drängte auf schnellstmögliche Beratung. Das muss sich ändern, egal wer nach der Wahl regiert. Gesetze müssen endlich wieder Gesetze werden, keine hektischen momentanen Maßnahmen, die nur Rechtsunsicherheit und keine Rechtssicherheit schaffen.
Finden Sie dafür bei Ihrem Kanzlerkandidaten Gehör?
Edmund Stoiber hat angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs sofort einen Konvent einzuberufen, der Vorschläge zur Deregulierung und Entbürokratisierung in Deutschland erarbeiten soll. Ich bin überzeugt, dass ein solcher Konvent auch den Vorschlag der Gesetzes-Folgenabschätzung behandeln wird.