Der 64-jährige Rudolf Seiters gehört seit 1969 dem Bundestag an. Er ist damit einer der dienstältesten Abgeordneten im Reichstag. Doch am Ende dieser Legislaturperiode zieht sich der stellvertretende Unions-Fraktionschef, Bundestagsvizepräsident und frühere Bundesinnenminister aus dem Bundestag zurück. Zeit, um ihn nach der Bilanz seiner politischen Tätigkeit zu fragen.
Nach 33 Jahren scheiden Sie aus dem Parlament aus. Gab es Situationen, wo Sie am liebsten hingeschmissen hätten?
Seiters: Eine solche Situation hat es bei mir nie gegeben...
...auch nicht 1993, als Sie wegen angeblicher Fehler im Anti-Terror-Einsatz von Bad Kleinen als Bundesinnenminister zurückgetreten sind?
Dieser Schritt war zwar schmerzlich, aber er war für mich auch folgerichtig, weil ich der Bundesregierung und der Öffentlichkeit keine monatelange Hängepartie zumuten wollte. Solange dauerten die Schusswaffenuntersuchungen wissenschaftlicher Institute. Die Reaktion der Öffentlichkeit damals und übrigens bis heute zeigen mir, dass mein Schritt, der als Schadensbegrenzung gedacht war und als Signal unvoreingenommener Aufklärung, vom Stil und von der politischen Kultur her richtig war. Insgesamt blicke ich mit Dankbarkeit und Zufriedenheit auf diese Jahrzehnte zurück. Ich konnte manches mitgestalten und bewegen - für die Menschen in meinem Wahlkreis, aber auch in der so genannten großen Politik, als Chef des Kanzleramtes im Prozess der deutschen Wiedervereinigung aber auch als Bundesinnenminister. Ich hatte in meinem politischen Leben viel Glück.
Wie haben Sie die parlamentarische Arbeit erlebt?
Der Bundestag hat großen Anteil daran, dass sich unser demokratischer Rechtsstaat in den vergangenen 50 Jahren beispielhaft entwickelt und gefestigt hat. Das demokratische Wechselspiel von Macht und Verantwortung funktioniert völlig normal und ohne Erschütterungen. Aufpassen müssen wir, dass verbriefte Zuständigkeiten des Parlaments nicht unterlaufen werden. Beispiel: Die Einrichtung eines «Nationalen Ethikrates» durch die Bundesregierung parallel zur Arbeit einer von allen Fraktionen eingesetzten Enquete-Kommission. Kritisch sage ich: Die freie Rede kommt zu kurz! Es gibt zu viele bis ins letzte Detail ausgefeilte Reden und zu wenig freie Vorträge.
Legendäre Redeschlachten gibt es in der Tat immer weniger. Dafür streiten die politischen Gegner lieber in öffentlichkeitswirksamen Talkshows miteinander. Haben die Medien die politische Auseinandersetzung verändert?
Die parlamentarische Debatte, die Macht des Wortes kann Meinungen beeinflussen, Mehrheiten schaffen, Stimmungen verändern und auch zum Rechts- und Wertebewusstsein beitragen. Dies muss das Parlament leisten. Das kann auch eine Talkshow leisten, wir haben ja auch manch seriöse. Aber die Gefahr, mit Schlagworten und oberflächlich-populären Thesen Punkte zu sammeln, ist in der Mediengesellschaft von heute leider immer stärker geworden. Viel härter geworden ist zudem die Konkurrenz unter den Medien, speziell in Berlin, und damit der Kampf um Schlagzeilen und Marktanteile - manchmal ohne Rücksicht auf sorgfältige Recherche. Das stimmt mich schon nachdenklich.
Ein Fernsehsender wie Phoenix wiederholt alte Bundestagsdebatten, überträgt aktuell aus dem Parlament und sendet außerdem Pressekonferenzen direkt...
Das ist durchaus positiv, denn die Möglichkeiten, Informationen und politisches Geschehen zu transportieren, sind dadurch größer geworden sind. Aber man darf nicht übersehen: Je stärker die Informationsmöglichkeiten sind, umso stärker sind auch die Manipulationsmöglichkeiten, und für Politiker wie für Journalisten gibt es durchaus die Versuchung, sich bei den Übertragungen in Szene zu setzen und das Inhaltliche zurückzudrängen.
Ein Politiker wie Herbert Wehner mit seiner einzigartigen Weise zu polemisieren wäre heute wohl in jeder Talkshow Gast...
Der würde gar nicht hingehen.
Haben Sie politische Vorbilder?
Hermann Ehlers, der ehemalige Bundestagspräsident. Sein Bild, dass in meinem Arbeitszimmer hängt, begleitet mich seit 1969 durch meine verschiedenen Büros. Er war für mich ein grundsatztreuer, christlich orientierter und gleichzeitig pragmatischer Politiker. Ich habe ihn immer als eine Art Vorbild gesehen. Aber ich bin auch von zwei Kanzlern geprägt: Konrad Adenauer und Helmut Kohl.
33 Jahre haben Sie im Bundestag Politik mitgestaltet. Ist Macht eine Droge?
Macht und Einfluss sind wichtig, wenn man gestalten will. Aber Macht war für mich nie eine Droge, und Machtinsignien auch nicht. Ich will es so formulieren: Politik hat mir immer Spaß gemacht, auch wenn es nicht nur Höhen, sondern auch Rückschläge gab.
Wie wird Ihr Leben nach dem 22. September aussehen?
Ich habe mich auf das Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag vorbereitet. Man sollte dann aufhören, wenn die Menschen «schade» sagen statt «endlich». Ich freue mich auf ein bisschen mehr Privatleben, aber auch auf viel ehrenamtliche Arbeit, in die ich meine Erfahrungen und meine Kontakte sicherlich nutzbringend einführen kann.
Und ich hoffe, dass ich wieder einmal mit der gesamten Familie, mittlerweile gehört auch ein Enkelsöhnchen dazu, eine gemeinsame Urlaubsreise machen kann.