Tel Aviv - Riesenschilder sind in den letzten Monaten auf Israels Straßen zu sehen. «Den Traum weiterträumen, zusammen - den gesamten Weg lang», beschwören sie und verkünden: «Der Zionismus wird siegen.» Als wollte man solch aufbauender Durchhaltepropaganda konkrete politische Essenz verleihen, proklamiert zudem der Likud-Parteitag, dass sich die führende Regierungspartei Israels der Errichtung eines palästinensischen Staates widersetzen werde.
Wenige im heutigen Israel glauben ernsthaft, der Palästinenserstaat werde sich verhindern lassen. Die einzige Frage, die sich diesbezüglich noch stellt, ist, wie viel Blut auf beiden Seiten vergossen werden wird, bevor der Konflikt endgültig beigelegt werden kann. Und dennoch fragt man sich verwundert, was es mit dem handfesten Anachronismus der überspannten Parteitagsproklamation auf sich habe, die sich so gebärdet, als sei die alte Großisrael-Ideologie nicht schon längst begraben. Und parallel dazu: Was bedeuten diese Straßenschilder-Slogans, welche selbst für den nostalgischsten Israeli den Beigeschmack muffiger Kitschpropaganda aus den 50er-Jahren haben müssen? Welchen «Sieges des Zionismus» bedarf es noch, nachdem der zionistische Staat längst besteht und keine geringen Erfolge in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur und der zumindest institutionellen Fundierung einer Zivilgesellschaft zu verbuchen hat? Ein Staat, der zudem eines der mächtigsten Militärapparate der Welt unterhält, und dessen vorgebliche Bedrohung (etwa durch die Palästinenser) sich eher wie kokette ideologische Rhetorik ausnimmt.
Steigt man indes von den Gipfeln pathoserfüllter Deklarationen hinab und begibt sich auf die Ebene konkreter gesellschaftlicher Realität, bietet sich ein ganz anderes Bild als das in der «Zusammen-Ideologie» marktschreierisch suggerierte. Israel ist in seiner inneren Strukturen mitnichten homogen, ist sich über seine innergesellschaftliche Tagesordnung keineswegs einig. Es ist vielmehr das Land einer zutiefst zerrissenen Gesellschaft. Das mag nichts Besonderes sein, denn moderne Gesellschaften sind ihrem Wesen nach immer von Gegensätzen und Konflikten durchwirkt.
Der Unterschied liegt jedoch im Anspruch, der die zionistische Staatsgründung von Anbeginn beseelte, in einer Prätention, die zur regelrechten Staatsideologie erhoben wurde. Denn gerade weil Israel, wenn auch nicht ausschließlich, so doch mit als Reaktion auf den Holocaust, mithin als Antwort auf eine lange Verfolgungs- und Leidensgeschichte der Juden errichtet wurde, gerade weil der Zionismus die Diaspora negieren und den «Neuen Juden» schaffen wollte und gerade weil man den gemeinsamen Nenner aller aus den unterschiedlichsten Kulturen der Welt versammelten Juden als Grundlage einer allgemeinen (eben zionistischen) Integration ansah, die durch den so genannten Schmelztiegel erreicht werden sollte, wurde die «nationale Einheit» als Schutz gegenüber der «Welt», vor allem aber als innerer Kitt von eher lose zusammengefügten Lebenswelten zelebriert.
Diese Einheit hat es aber nie wirklich gegeben. Von Anbeginn existierte ein Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis Israels als säkularem Staat und der zentralen Rolle, die in ihm der Religion zugewiesen wurde. Das Problem von «Staat und Religion» indiziert im heutigen Israel einen noch nicht ausgestandenen Kulturkampf. Gleiches lässt sich vom Umgang mit der in Israel lebenden, großen arabischen Minorität behaupten; die israelischen Palästinenser sind zwar formal gleichberechtigte Bürger, werden aber - als «Sektor» - seit Jahrzehnten systematisch unterprivilegiert und diskriminiert.
Zurecht wurde darauf hingewiesen, dass Israel nicht als Staat all seiner Bürger existiert, mithin als «jüdischer Staat» nicht beanspruchen kann, eine Demokratie zu sein. Damit zusammenhängend ist die wohl eklatanteste Ernüchterung hinsichtlich ursprünglicher Ideale zu verzeichnen: Die klassische Vorstellung von einer egalitären Gesellschaft ist an der mittlerweile aufgegangenen sozialen Schere dermaßen zerschellt, dass Israel unter den entwickelten Ländern an einer der höchsten Stellen von Wirtschaftsgebilden mit übergroßer sozialer Diskrepanz rangiert. Auch die über eine Million nach Israel eingewanderten Bürger aus der ehemaligen Sowjetunion tragen nicht gerade zur Homogenisierung der Gesellschaft bei.
«Zusammen» also? Real nicht, ideologisch aber schon. Denn nicht undenkbar ist, dass die «äußere» Bedrohung mit dazu dienen mag, den inneren, eher wackligen Zusammenhalt zu festigen, wenn nicht gar zu garantieren. Der in Europa wieder auflodernde Antisemitismus ist objektiv entsetzlich, kann aber durchaus in propagandistischer Absicht «verwertet» werden. Was mag da wohl alles wegfallen bzw. auf Israel von innen her zukommen, wenn der Frieden mit den Palästinensern erst mal erreicht ist?
Der Autor lehrt an der Universität von Tel Aviv deutsche Geschichte.