«Die Dekrete entfalten immer noch Diskriminierung»

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Berlin - Der Historiker Arnulf Baring wird heute in Nürnberg mit dem Europäischen Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft ausgezeichnet. Mit dem 70-Jährigen sprach Gernot Facius über das deutsch-tschechische Verhältnis.

Belastet die Diskussion über die Benes-Dekrete ausschließlich das sudetendeutsch-tschechische Verhältnis oder beschwert sie die gesamten deutsch-tschechischen Beziehungen?

Arnulf Baring: Ich vermute das Zweite. Das Unrecht, das Deutschen in der Folge des Zweiten Weltkrieges angetan wurde, ist ja jahrzehntelang tabuisiert wurden. Spätestens nach Erscheinen des jüngsten Buchs von Günter Grass «Im Krebsgang» ist allerdings das Kapitel Vertreibung auch ein von der Linken akzeptiertes Thema. Das muss durchschlagen auf die deutsch-tschechischen Beziehungen. Das haben wir im Kontext des abgesagten Prag-Besuchs des Kanzlers gesehen. Ich hoffe, dass das nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einem entspannteren Verhältnis ist.

Wie erklären Sie sich das Insistieren auf Dekreten, die selbst in Tschechien als problematisch empfunden werden?

Man muss davon ausgehen, dass es eine verbreitete Angst - bei den Politikern wie bei der Bevölkerung in Tschechien - gibt, eine Aufhebung der Dekrete würde massive Eigentumsforderungen von deutscher Seite nach sich ziehen. Ich halte diese Angst für unbegründet. Ich glaube, dass es um ganz andere Dinge geht. Seriösen Veröffentlichungen ist zu entnehmen, dass die Dekrete gegenüber Angehörigen der deutschen Minderheit noch immer diskriminierende Wirkungen entfalten. Unerhört! Das darf nicht Bestand haben.

Sie halten also nichts von der These, die Dekrete seien «erloschen»?

Überhaupt nichts. Damit soll nur die Wirklichkeit geschönt werden. Dazu kommt ein Ausmaß an nationaler Hysterie, wie wir es von keinem anderen Nachbarstaat kennen. Es mag ja sein, dass die Tschechen 1938, 1948 und 1968 einen Aderlass an politischer und intellektueller Kompetenz zu beklagen hatten, der nicht ausgeglichen werden konnte, sondern zu einer unzulänglichen Führungsausstattung der politischen Parteien geführt hat. Das allein erklärt die Lage nicht. Dass sich selbst Autoritäten wie Vaclav Havel und Vaclav Klaus zu peinlichen Äußerungen haben hinreißen lassen, zeigt eine nachgerade erschreckende nationale Erregung.

Staatspräsident Vaclav Havel hat vor noch nicht allzu langer Zeit klare Worte in Richtung auch der Sudetendeutschen gefunden. Nun gibt er der Bestätigung der Benes-Dekrete seine Zustimmung. Eine Kapitulation vor Kräften, die auf die nationale Karte setzen?

Ich würde das vermuten. Gerade an Havels Einlassungen sind große atmosphärische Veränderungen ablesbar. Die Frage ist jetzt: Wie bekommt man Prag aus dieser Ecke wieder heraus?

Nämlich?

Sicherlich nicht, indem man Tschechien ultimativ unter Druck setzt. Bei der Verbiesterung, die dort um sich gegriffen hat, würde das eine ungünstige Wirkung haben. Man sollte vielmehr erkennen, dass es vor allem unter der jüngeren Generation Anzeichen gibt, die hoffen lassen, dass die gegenwärtige Einmütigkeit im Parlament nicht die Haltung der Bevölkerung widerspiegelt. Man muss darauf vertrauen, dass sich - abgesehen von den Diskriminierungen Deutschstämmiger, die vor den europäischen Gerichten keinen Bestand haben werden - allmählich dort eine selbstkritischere Haltung ausbreitet. Es geht doch nicht um massive Besitzansprüche der Sudetendeutschen. Im Kern haben wir es mit einem psychologischen, seelischen Problem zu tun: dass das Unrecht, das den Vertriebenen angetan wurde, als solches benannt und dann gemeinsam bedauert wird.

Es scheint so, als falle das den Polen leichter.

Die Tschechen haben unter den Nationalsozialisten erheblich weniger gelitten als die Polen und legen seither, was ja damit zusammenhängen mag, eine erstaunliche Härte und Kaltherzigkeit gegenüber den Deutschen an den Tag. Dagegen lässt sich nur mit Geduld und dem Blick auf alle Zusammenhänge angehen. Nicht mit Schönrederei. Es geht primär um die Veränderung von Mentalitäten, darum, dass sich jedes Volk der eigenen wie der fremden Untaten und Verirrungen bewusst wird.

In Tschechien ist eine Art Benes-Renaissance zu beobachten. Was war Benes: ein politischer Spieler, ein Rassist, gar ein Kriegsverbrecher?

Wahrscheinlich muss man weit zurückgehen, um die Ursachen der tschechischen Verstörungen zu ergründen, vielleicht bis zur Verbrennung von Jan Hus und zur Schlacht am Weißen Berg 1620. Nach 1918, dem Jahr der Gründung der Tschechoslowakischen Republik, war man im nationalistischen Überschwang - wie wir das etwa auch bei Milosevic in Serbien erlebt haben - der Meinung, entweder die Minderheiten müssten sich assimilieren oder man müsse sehen, wie man sie los werden könne. Ich nehme es Benes besonders übel, dass er schon vor dem Münchner Abkommen 1938 eine große Umsiedlungsaktion ins Auge fasste.

Angenommen, Tschechien findet mit dem Ballast der Benes-Dekrete Einlass in die Europäische Union. Was bedeutet das?

Einen Vorbehalt wird es wohl geben, geben müssen, damit es mit der Zeit und in einer ruhigen Erörterung zu einer Lösung von dieser Prager Altlast kommt. Das tschechische Gesetz von 1946, das Verbrechen selbst von Frauen und Kindern von Bestrafung freistellt, bloß weil es Deutsche waren, ist doch unglaublich. Das kann weder rechtlich noch historisch Bestand haben. Aber ich halte nichts davon, eine Barriere vor den Eingang in die EU zu schieben. Wie ich überhaupt glaube, dass man sich zunächst darauf gefasst machen muss, dass es noch eine Weile dauert, bis die Tschechen zu einem angemessenem Verhältnis zu sich selbst und zu Europa gefunden haben.