Washington - "Während wir uns heute Abend versammeln, liegt unsere Nation im Krieg, ist unsere Wirtschaft in der Rezession; und die zivilisierte Welt sieht sich beispiellosen Gefahren gegenüber. Doch der Zustand der Union ist niemals stärker gewesen." Bomben fielen in Afghanistan, die letzten Schwelbrände in Ground Zero waren kaum erloschen, als George W. Bush seine "State of the Union Address" derart einleitete.
Auch heute ist von 21 Uhr Ortszeit an ein ähnliches Ritual zu erwarten: Aberdutzende Male wird sich das Publikum erheben (Republikaner häufiger als Demokraten), viele stöhnend, um ihrem Präsidenten und dem Volk das artigste Hofzeremoniell darzubieten, das die amerikanische Republik sich leistet. Der Kaiser, pardon der Präsident werde in diesem Jahr etwa länger als 50 Minuten sprechen, hieß es. Ach so. Zum Irak und dem Krieg gegen den Terror, zu seiner Steuersenkungspolitik und Reformen im Gesundheitswesen. Man möge weder die Erklärung des Krieges erwarten noch den Verzicht darauf. Um Inhalt geht es nur beiläufig bei der Erfüllung des Verfassungsgebots, das Parlament über das Befinden des Landes zu informieren. Seit Woodrow Wilson darauf bestand, den Bericht selbst vorzutragen, ist daraus ein Schmaus für Insider in Behörden und Lobbyisten-Zirkeln geworden, die sich an Nuancen laben. Das gemeine Volk kann diesem Spiel nicht folgen.
Es ist ungewiss, ob Bush heute die "Achse des Bösen" abermals entwerfen wird. Das Weiße Haus ist zufrieden mit dem Eigenleben der "prophetischen" Bemerkung, die als einzige unvergesslich war. Das immer weniger kriegsbegeisterte Klima in der amerikanischen Bevölkerung lässt noch grellere Prägungen nicht ratsam erscheinen. Die Bürger wollen Beweise sehen für Saddams Waffenprogramme und für eine Verbindung zu Al Qaida, mit "Vertraut uns, wir wissen mehr als ihr ahnt" ist es nicht mehr getan. Republikaner im Kongress werden nervös, wenn Zweidrittel der Amerikaner erst die Beweise und eine mächtige Allianz sehen wollen, bevor sie einem Krieg zustimmen. Von überirdischen 85 Prozent auf fast normale 50 Prozent sind Bushs Popularitätswerte gestürzt. Auch deshalb eilt es mit dem Waffengang. Eigentlich, meint der frühere Sprecher des Repräsentantenhauses Dick Armey, gehe es bei der Rede zur Lage der Nation nur darum, "auf die Bühne zu springen und zu sagen: &Ich bin der 900-Pfund-Gorilla, und ich bin ein Mann mit einem Plan&." In den Essays von 14 jungen Fellows des Washingtoner Think Tanks New America Foundation werden Fragen und Befunde zusammengetragen, die nur einer postideologischen Institution in den Sinn kommen konnten. Wie soll es weitergehen in einer Wirtschaft, die nur noch von der Nachfrage von hochverschuldeten Verbrauchern angetrieben wird? Wäre eine Umsiedlungs-Bewegung aus den zu engen, teuren, gefährlichen, bei Wahlen unterrepräsentierten Küstenregionen in die Weite des ausblutenden Herzlands ein Segen oder ein Albtraum? Warum haben im Boom der 90er Jahre fast nur schwarze Frauen, nicht ihre Männer, Jobs angenommen, und was droht der Nation mit der höchsten Gefängnis-Insassendichte, wenn alle Häftlinge zurückfluten in die Gesellschaft?
Die Essays münden sternmarschartig in "American Paradox" von Ted Halstead. Der Gründer und Chef der New America Foundation befragt den Januskopf USA, wie es zu dem Doppelgesicht kommt. Wie "die reichste, mächtigste, kreativste Nation des Planeten" zugleich leiden kann an "der höchsten Rate in Armut, Mord, Säuglingssterblichkeit, HIV-Infektion" und Unversicherten unter den entwickelten Demokratien. Halsteadt glaubt an einen neuen Gesellschaftsvertrag, der mehr Flexibilität und Fairness von den Amerikanern verlangt. Die Nation habe sich seit jeher neu erfunden, zu Beginn der post-industriellen Ära sei es wieder einmal an der Zeit.