Interview

Tiefenrausch im Todessee

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Der Kreidesee bei Cuxhaven wird der Todessee genannt, denn immer wieder kommt es in dem tiefen Gewässer zu Unfällen. In den vergangenen 15 Jahren gab es hier mehr als zehn Tote. Dieses Jahr starben zwei Niederländer. Walter Comper vom Bremer Tauchernotruf "aqua med" ist selbst schon mehr als 80 Mal in den See gestiegen.

Katja Mitic sprach mit ihm über die Faszination der Tiefe

Berliner Morgenpost: Der Kreidesee in Hemmoor gilt als Todessee. Was ist dran am Mythos?

Walter Comper: Der See ist mit seinen 60 Metern nicht gefährlicher als andere tiefe Seen. Ganz im Gegenteil: Die Infrastruktur im Falle eines Unfalls ist dort besser als bei den meisten Gewässern im deutschsprachigen Raum. Aber je tiefer man geht, desto gefährlichere Folgen haben Fehler.

Berliner Morgenpost: Was ist denn die größte Gefahr?

Walter Comper: Nicht die Technik oder die Kälte, sondern der Mensch selbst. Damit meine ich vor allem gesundheitliche Probleme, die schon vor dem Tauchergang bestanden. Wir beim Tauchernotruf "aqua med" gehen davon aus, dass das bei tödlichen Unfällen sogar zu 70 Prozent der Fall ist. In einem Alter von 50 Jahren oder mehr steigt die Wahrscheinlichkeit für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall statistisch an. Beim Tauchen kommt der Infarkt dann eben nicht auf dem Mountainbike, sondern unter Wasser. Das schränkt die Rettungsmöglichkeiten stark ein. Gleichzeitig wird die Tiefe unterschätzt. Viele sagen sich: Wenn ich auf den Malediven 50 Meter tauche, dann kann ich das auch im See vor der Haustür. Eine Fehleinschätzung. In Hemmoor hat man deshalb übrigens schon vor Jahren Tiefenlimits eingeführt. Aber das ist wie mit Tempolimits auf der Autobahn - daran halten sich nicht alle.

Berliner Morgenpost: Was ist so anders beim Tauchen in einem kalten See?

Walter Comper: Warmes Wasser wie im Indischen Ozean ist für einen Taucher angenehmer. Mit einem dünnen Anzug und wenig Ausrüstung fällt alles viel leichter. In 30 Meter Tiefe ist es dort so hell wie im Kreidesee an guten Tagen in zehn Metern. Und dann habe ich in Hemmoor bei acht oder neun Grad Wassertemperatur meistens auch noch einen Trockentauchanzug, dicke Handschuhe, zwei Atemregler und eine dicke Kopfhaube dabei. Das bedeutet Stress.

Berliner Morgenpost: Warum wird trotz der Gefahr im Kreidesee getaucht?

Walter Comper: Hemmoor ist einfach schön. Ich habe dort schon Tauchgänge gemacht, da war es wie im Mittelmeer. Zudem ist es ein perfektes Übungsgebiet. Versunkene Bauwerke und alles, was die Betreiber so versenkt haben - vom Flieger über den Wohnwagen bis zum Lkw - bringen Abwechslung. Hemmoor ist für mich deshalb eines der Topziele in Deutschland.

Berliner Morgenpost: Bei den bisherigen Tauchunfällen hieß es oft, dass die Taucher in Panik gerieten.

Walter Comper: Panik ist immer ein Problem bei Tauchern. Ein wesentlicher Faktor ist der gefühlte oder echte Kontrollverlust. Und das kann bei einer unglücklichen Verkettung von Umständen schnell passieren. Ein Beispiel: Ein Taucher schwimmt vom Ufer weg, geht auf 30 Meter Tiefe, guckt auf seinen Kompass und merkt: "Hoppla, ich habe mich völlig verpeilt". Er dreht sich einmal um sich selbst, sieht aber nur verschlammtes Wasser, auch sein Partner ist weg. Ohne es zu merken, sinkt er auf 40 Meter. Dann kriecht die Angst langsam in den Anzug rein. Dann wird es noch kälter, als es ohnehin schon ist. Jetzt kommt es zu einem leichten Tiefenrausch oder einer Kurzatmigkeit, dem sogenannten Essouflement. Man hat dann das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Es gibt Menschen, die dann das Mundstück ausspucken und Wasser einatmen. Oder sie schießen mit mehr als 30 Metern pro Minute nach oben an die Operfläche.

Berliner Morgenpost: So ein Notaufstieg gilt doch als lebensgefährlich, weil dabei kein Druckausgleich stattfindet. Wie stehen denn die Überlebenschancen?

Walter Comper: Schwer zu sagen, das hängt von der Situation ab. Es kann zu Lungenrissen oder Hirnschädigungen kommen. Grundsätzlich gilt aber: An der Oberfläche kann dir geholfen werden, in der Tiefe nicht. Im Zweifelsfall würde ich den Notaufstieg wählen, wenn ich ein Problem nicht unter Wasser lösen kann.

Berliner Morgenpost: Die verunglückte Tauchergruppe aus den Niederlanden war auf 50 Metern. Was fühlt sich so eine Tiefe an?

Walter Comper: Tief! 50 Meter in einem deutschen See sind wirklich tief. Da darf nichts anderes mehr schiefgehen. Ich kenne niemanden, dessen Performance da nicht erheblich eingeschränkt wäre. Als Faustregel kann man sagen: Alles, was passieren kann, wird durch den Tiefenrausch verstärkt und beschleunigt.

Berliner Morgenpost: Was passiert beim Tiefenrausch?

Walter Comper: Man spricht dabei auch von der Stickstoffnarkose. Nach meinen Erfahrungen gibt es erste Anzeichen schon bei 30 Metern. Gefährlich ist das Nachlassen der Konzentration, der Aufmerksamkeit und der Reaktionsfähigkeit. Wenn man dann merkt, dass etwas schiefgeht, wird aus Sorge schneller Panik als in geringeren Tiefen.

Berliner Morgenpost: Haben Sie selbst schon gefährliche Situation in dem Kreidesee erlebt?

Walter Comper: Nein, zum Glück nicht.

Berliner Morgenpost: Haben Sie trotz der Unfälle ihren nächsten Tauchgang im Kreidesee schon geplant?

Walter Comper: Wenn ich in diesem Jahr noch Zeit finde, dann schon.

Berliner Morgenpost: Sollte der See nicht eher gesperrt werden?

Walter Comper: Mein Gott, das wäre dumm! Statistisch gesehen ist das Risiko beim Tauchen im untersten Promillebereich. Jeder Fußballer, Motorradfahrer oder Reiter muss ein höheres Risiko in Kauf nehmen. Vielleicht einer von 3000 Tauchgängen ist ein Zwischenfall. Und da kann man oft nicht von einem Unfall sprechen. Das sind kleinere Probleme im Hals-Nasen-Ohren-Bereich. Die schweren Unfälle sind zu einem großen Anteil keine wirklichen Tauchunfälle, sondern eben der Herzinfarkt unter Wasser. Ich will nichts verharmlosen: Es gibt Unfälle, die passieren, auch wenn sich ein Taucher an alle Regeln gehalten hat. Die gute Nachricht ist, dass eine rechtzeitige Erste Hilfe fast immer zu einer vollständigen Genesung führt. Aber trotzdem: Nach meinem Empfinden ist das Gefährlichste an einem Tauchgang im Kreidesee die Autofahrt dorthin. Achten Sie mal auf die Kreuze am Fahrbahnrand der B73 zwischen Hamburg und Hemmoor.