Der Fall Benaissa

"Du hast viel Leid in die Welt getragen"

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Torsten Thissen

Der entscheidende Satz fällt zuletzt. "Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war Frau Benaissa die Quelle", sagt Josef Eberle nach gut einer Stunde Vernehmung, in der er viel über das HI-Virus und dessen Tücken gesprochen hat. Er hat berichtet, dass das Virus wohl zwischen 1880 und 1940 in Afrika von Schimpansen auf den Menschen übergesprungen ist.

Er hat von verschiedenen Stämmen und ihrer Verbreitung berichtet, davon, dass die Wissenschaft anhand des genetischen Fingerabdrucks und vorhandener Datenbanken mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen kann, woher genau das Virus stammt, das ein Patient im Körper trägt.

Seltener Virustyp

Nadja Benaissas Virustyp ist hierzulande äußerst selten: HIV, Typ I, Gruppe M; zum ersten Mal ist dieser Virustyp in Nigeria aufgetaucht. Die genetische Ähnlichkeit mit dem Virus des Nebenklägers sei so hoch, er habe dies erst in zwei anderen Fällen gesehen, bei drei usbekischen Drogenabhängigen, die die gleiche Spritze benutzt hatten, und bei einem Ehepaar aus Regensburg. Es kommt nicht oft vor, dass der Professor für Mikrobiologie und Virologie an der Universität München sich so festlegt, doch in diesem Fall, der Verhandlung gegen Nadja Benaissa, ist das, was er sagt, eindeutig. Wenn er nur die Viren bekommen und nicht gewusst hätte, woher sie stammen, hätte er gesagt, sie stammen aus einem Körper, sagt Eberle.

Benaissa hat somit zumindest den Nebenkläger mit dem HI-Virus angesteckt, indem sie ungeschützten Sexualverkehr mit ihm hatte. Um Benaissas Tat einzuschätzen, ihre Schuld, muss man sich vielleicht vor Augen führen, worunter der Mann zu leiden hat.

Er muss für den Rest seines Lebens Medikamente nehmen, von denen einem übel wird, die Organversagen zur Folge haben können. Er muss mindestens alle drei Monate zum Arzt gehen, wobei er jedes Mal bangen wird. Er muss sein Sexualleben einschränken, seine Familienplanung ändern, es wäre schwierig für ihn, im medizinisch nicht so gut ausgestatteten Ausland zu leben. Und wahrscheinlich wird er irgendwann an Aids erkranken. Er könnte daran qualvoll sterben.

Kein Zweifel besteht daran, dass es bei dem Prozess um eine Frau geht, deren Leben einer Achterbahnfahrt ähnelt, wie Staatsanwalt Peter Leisefeld ausführt. Da ist das Rebellentum gegen ihr Elternhaus, Schulschwänzereien, erst weiche Drogen, dann mit 14 die Abhängigkeit von Crack, ein Leben auf der Straße im Frankfurter Bahnhofsviertel und die Schwangerschaft mit 16 Jahren. Benaissa erfährt, dass sie HIV-positiv ist, sie reißt sich zusammen, entkommt dem Milieu, geht auf die Abendschule, kümmert sich um ihre Tochter. In dieser Zeit passiert es nach allem, was man weiß, zum ersten Mal, dass Benaissa mit einem Mann ungeschützt Sex hat, trotz ihrer HIV-Infektion.

Benaissas Leben dreht sich wieder um 180 Grad, sie wird Teil der No Angels, gibt die Tochter zu ihrer Mutter, bricht die Abendschule ab, um sich ihrer Karriere zu widmen, arbeitet hart. Als sich die Gruppe auflöst, fällt sie in ein tiefes Loch, sie trinkt wieder mehr, geht auf Partys. In dieser Zeit hat sie die Affäre mit dem Nebenkläger. Mit ihm betrügt sie ihren damaligen Freund. Ihn hatte sie über ihre Infektion aufgeklärt, den Nebenkläger nicht. Selbst als er sie eines Tages fragt, ob denn wirklich alles in Ordnung sei mit ihr, verschweigt sie ihm den Virus.

Keine persönliche Entschuldigung

Und da ist die andere Seite der Nadja Benaissa: Sie klärt ihn auch nach Ende der Beziehung nicht auf. Sie verweigert ihm jedes klärende Gespräch, selbst als er drei Jahre später weiß, dass er HIV-positiv ist. Er versucht, über ihre Tante mit ihr in Kontakt zu kommen, doch sie blockt ab. Irgendwann teilt sie ihm mit, er müsse einfach damit klarkommen. Erst im Geständnis vor Gericht, als sie zugibt, was ohnehin schon klar ist, sagt sie, es tue ihr von Herzen leid. Als einige Medien sie falsch mit den Worten zitieren, es tue ihr von Herzen leid, ihn angesteckt zu haben, fordert sie Unterlassung. Sie sagt vor Gericht, ihre Ärzte hätten ihr mitgeteilt, sie sei gar nicht ansteckend, was nachweislich nicht sein kann. Eine persönliche Entschuldigung bei ihrem Opfer gab es bis heute nicht. Ist das tätige Reue, Einsicht, ehrliches Bedauern, die der Staatsanwalt als strafmildernd wertet?

Muss ein Gericht die Strafe abmildern, weil die Mandantin unter ihrem "Zwangsouting" in den Medien gelitten hat, wie ihr Verteidiger Oliver Walasch ausführt? Ein Verteidiger, der zu Beginn seines Plädoyers sagt: "Offenbar kommt der Nebenkläger nicht mit seiner Krankheit klar." Er wirft dem Geschädigten vor, auch nach seiner Affäre mit Benaissa ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Zum Glück hat der Nebenkläger offenbar niemanden angesteckt, er hat sich jedem seiner Sexualpartner offenbart, alle haben einen Test gemacht. Er ist verantwortungsvoll mit seiner Krankheit umgegangen.

"Du hast so viel Leid in die Welt getragen", sagte er am ersten Tag des Prozesses in Richtung Nadja Benaissa. Ansonsten finden auch an diesem vorletzten Tag wieder alle Prozessbeteiligten viele milde Worte über den glamourösen Popstar, dessen Biografie bereits gedruckt ist und in ein paar Wochen erscheinen soll. Der Staatsanwalt fordert zwei Jahre Haft auf Bewährung, auch die Verteidigung plädierte auf eine Bewährungsstrafe. Das Urteil über Benaissa soll heute um 13 Uhr gesprochen werden.