Owingen/Überlingen - Viele Polizisten und freiwillige Helfer werden sich nach Ansicht von Experten erst Tage oder sogar Wochen nach dem schweren Flugzeugunglück am Bodensee der dort erlebten Schrecken bewusst. «Oft wird das Ereignis erst nach der Honeymoon-Phase präsent», sagte Polizeipsychologe Reinhard Tanke von der Fachhochschule Villingen-Schwenningen in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. Diese Rückerinnerungen seien in vielen Fällen kaum zu kontrollieren. Dennoch werde die angebotene professionelle Hilfe nicht immer in Anspruch genommen. «Vor allem Männer leiden oft für sich selbst», sagte Tanke.
Allein in Baden-Württemberg arbeiten rund 90 so genannte Konfliktberater, um Polizeibeamte auf grausige Bilder von Unfallorten oder Erlebnisse nach schweren Unglücken zu beraten. Der Umgang mit diesen belastenden Szenen sei ebenso wie die Stressprävention wichtiger Teil der Aus- und Fortbildung von Polizisten, sagte Tanke. «Nach Katastrophen wie dem Unglück am Bodensee wollen viele Polizisten oder Ehrenamtliche nicht weg, sie wollen helfen und benötigt werden», erklärte Tanke. Die Gespräche mit den professionellen Beratern seien wichtig, «um Luft abzulassen». Die Psychologen seien «Ansprechpartner ohne Kommentierung». Eine Katastrophe wie in Überlingen kann die Helfer nach Meinung von Experten lebenslang begleiten.
Wenn im Laufe des heutigen Tages die Angehörigen der russischen Opfer in Überlingen eintreffen, werden die Seelsorger vor ein neues Problem gestellt: Die seelsorgerische und psychologische Betreuung von Angehörigen der Opfer der Flugzeugkatastrophe am Bodensee wird nach den Worten von Polizeipfarrer Matthias Steinmann sehr schwierig. «Die Familienangehörigen der russischen Opfer stammen aus einer anderen Religion und sprechen eine fremde Sprache. Auch ihr emotionaler Hintergrund ist unserem fremd», sagte der evangelische Pfarrer gestern. Dies habe er bei ersten Gesprächen mit einem Russen gemerkt, der bei dem Zusammenstoß der zwei Flugzeuge seine Frau und zwei Kinder verlor.
Als der Mann von dem Unglück gehört habe, sei er in das Betreuungszentrum in Owingen bei Überlingen gekommen. «Er hat sogar einen Übersetzer mitgebracht. Aber eine psychologische und seelsorgerische Betreuung ist unter diesen Umständen schwer.»
In dem Betreuungszentrum kümmern sich zehn Teams mit Seelsorgern, Psychologen und speziell ausgebildeten Konfliktberatern der Polizei um die Betroffenen. Besonders schwer habe es eine örtliche Polizeistreife getroffen. «Die Beamten waren nachts unterwegs, als sie plötzlich einen Feuerball sahen. Kurz darauf fiel direkt vor ihnen eine Kinderleiche vom Himmel.» Es tue gut, über solch ein traumatisches Erlebnis dann sprechen zu können, so der Pfarrer. dpa