Klassik-Kritik

Russlands Stargeiger Maxim Vengerov mit alter Kraft zurück

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Felix Stephan

Was für ein Glück, dass er wieder als Geigenvirtuose um die Welt reist: Maxim Vengerov, der ausdrucksgewaltige Russe mit dem fitnessgestählten Oberkörper, der kongeniale Feuerkopf, in dem es so fantastisch brodelt und tobt. Lange Jahre hatte das einstige Wunderkind wegen einer Verletzung pausiert. Notgedrungen war es von der Stradivari zum Taktstock gewechselt. Nun endlich scheint Vengerov zu ursprünglicher Stärke zurückgefunden zu haben. Stämmig wie Jahrhundertgeiger Dawid Oistrach wächst der mittlerweile 40-Jährige aus dem Podiumsboden der Philharmonie. Vengerovs kühn gestraffte Expressivität prägt Tschaikowskis D-Dur-Violinkonzert op. 35 vom ersten Moment an.

Das Orchestre Philharmonique de Radio France unter Chung Myung-whun rankt sich in russischer Herzlichkeit um den Solisten. Es setzt auf robuste Melancholie, rigorose Gefühlsaffekte und kämpferische Akzente. Doch Vengerovs vor Energie schier berstende Schöpferlaune thront über allem anderen. Sein opernhafter Tonfall scheint an alten Gesangsmeistern geschult – schnelles Vibrato, schluchzende Glissandi, hinreißender Tenorschmelz im tieferen Register. Sein Spiel ist von rhapsodischer Großzügigkeit durchdrungen. Schiefe Töne und geräuschhafte Härten nimmt er bewusst in Kauf. Dieser Tschaikowski klingt nach Krieg, nach dem schmerzhaften Überwinden ungeheurer Widerstände. Vengerov nimmt auf sein eigenes Wohlbefinden keine Rücksicht. Er lebt ganz für die Musik, kämpft wie ein Besessener. Die leiseren, intimeren Momente spart sich Vengerov für den langsamen Mittelsatz auf. Im Finale brummt seine Stradivari urplötzlich wie ein Schwarm Hornissen. Immer verwegener, immer radikaler, immer übermenschlicher wirbelt Vengerov. Welcher lebende Weltklassegeiger kann von sich behaupten, einen ähnlich voluminösen, durchdringenden Ton erzeugen zu können? Einen Ton, der selbst in höchsten Höhen noch saftig und kraftgeladen klingt?

Große Begeisterung stürmt Maxim Vengerov hinterher entgegen. Eine weiße Rose, überreicht aus kleiner Mädchenhand, lässt den großen Virtuosen schwach werden. Gerührt spendiert er Bachs g-Moll-Adagio aus der Solosonate BWV 1001 – und zeigt sich dem Publikum von seiner nachdenklicheren, verletzlicheren Seite.

Vengerovs Sendungsbewusstsein prägt nicht nur sein eigenes Spiel. Es infiziert auch das Orchestre Philharmonique de Radio France nachhaltig. Geballte Kreativität und wuchtige Operndramatik herrschen nach der Pause in Hector Berlioz’ „Symphonie fantastique“. Rekordverdächtige zehn Kontrabässe und supergroße Trommeln lässt Chung Myung-whun in der Philharmonie aufmarschieren. Kaum zu glauben, welch muskulös kontrollierte Klangfluten der kleine, schmale Koreaner erzeugt. Chung befindet sich auf Abschiedstournee. Es ist seine letzte Saison beim französischen Klangkörper. Die Musiker erfüllen ihm jeden Wunsch, schmieden sich in bedingungsloser Sympathie zusammen. Sie spielen einen mitreißenden Berlioz zwischen spätromantischem Prachtschwelgen und genialischer Präzision.