Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen von Livestream
Ausgerechnet Tim Renner, der Berliner Kulturstaatssekretär, der jüngst den kostenlosen Livestream für die großen Berliner Theater- und Opernpremieren forderte, bekannte: „Ich wäre gerade lieber in Dortmund gewesen.“ Im Schauspiel Dortmund, wo sich das, was wir hier in Berlin eben als gestreamte Inszenierung auf der Leinwand sahen, in echt zutrug. Dort, wo Regisseur Kay Voges in seiner Interpretation von Sarah Kanes „4.48 Psychose“ den Menschen in seine Datensätze zerlegt und den Körper so vom Sein entkoppelt, dass das Bewusstsein Amok läuft, beim piepsenden Puls, den Atemfrequenzen, die wir live übertragen bekommen.
Unter dem Titel „Schauspiel im Livestream – Fluch oder Segen?“ hatte die Heinrich-Böll-Stiftung am Mittwoch zum Streaming-Event mit Diskussion geladen. Es galt herauszufinden, ob womöglich auch die Seele des Theaters Schaden nimmt, wenn man es in Datenpäckchen zerlegt und an anderer Stelle wieder zusammensetzt, also Produktion und Wiedergabe entkoppelt. Denn nach Renners Aussagen zu „Open Data für Kultur“ war schon von der Entdemokratisierung des freien Blicks zu lesen, und Gerhard Stadelmaier prognostizierte in der FAZ vorsorglich direkt eine „Theaterzerstörung“. Doch Renners wiedererwachte Liebe zum analogen Theater heißt nicht, dass er seine Meinung geändert hätte. Im Gegenteil, auf dem vom Autor bis zum Intendanten etwas zu üppig und zu einig besetzten Podium, konnte er sich Rückendeckung abholen. Sein Bekenntnis, lieber in Dortmund gewesen zu sein, bekräftigt seine „Vision der Niedrigschwelligkeit“. Seine Kernthese: „Das politische Ziel wäre erreicht, wenn wir jedem, der da draußen arm, krank oder gerade am falschen Ort ist, es ermöglichen, dabei zu sein.“ Nicht zwingend bei allen, aber bei ausgewählten Inszenierungen.
Auch wenn sich keiner gegen das Livestreaming aussprach, gibt es noch ein paar Dinge zu klären. Erstens die Rechtefrage, denn bei einigen Autoren ist eine Ausstrahlung schlicht nicht möglich. Auch Sarah Kane gehört dazu, die testamentarisch die weitergehende Verwertung ihrer Stoffe ausschloss, weshalb die Streaming-Vorstellung im geschlossenen Kreis stattfinden musste. Dann wäre da noch das große Thema der Finanzierung. Dabei käme es sehr auf die Ausgestaltung der Übertragung an: Macht man wie etwa die New Yorker Metropolitan Opera daraus große Kino-Events, wählt man den Weg der Berliner Philharmoniker mit ihrer kostenpflichtigen Digital Concert Hall oder soll sie gratis verfügbar sein? Sprach Tim Renner ursprünglich noch vom kostenlosen Livestream, so modifizierte er jetzt und sagte zu einem möglichen Pay-Modell: „Muss nicht, kann aber.“ Von den Finanzen hängen am Ende die ästhetischen Möglichkeiten ab.