Klassik-Kritik

Die Bläser schwärmen in alle Richtungen aus

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Felix Stephan

Berliner Philharmoniker spielen Lindbergs „Kraft“

Verstehe einer diese Berliner Philharmoniker. Da eilt ihnen der Cellist Daniel Müller-Schott so liebenswürdig zur Hilfe, springt heldenhaft kurzfristig für den erkrankten Truls Mørk ein. Er tritt an, um das Dvořák-Cellokonzert in vollendeter Schönheit spielen. Und dann so etwas: Gleich nach der Orchesterexposition verkriechen sich die Philharmoniker im Hinterland. Ihr Dvořák quält sich steif und lustlos dahin. Selbst den zauberhaftesten Momenten der Partitur können die Musiker an diesem Abend nichts abgewinnen. Trifft Dirigent Alan Gilbert daran die Hauptschuld? Mag sein. Ohne Bogen und innere Spannung führt der Amerikaner durch das Werk. Und vor allem: ohne künstlerische Vision. Verhaltener Applaus danach, vereinzelte Bravos für Daniel Müller-Schott. Die schwächste erste Konzerthälfte der laufenden Philharmoniker-Saison ist überstanden. Ein Dvořák zum Lieber-schnell-wieder-vergessen.

Nach einer langen Umbaupause tritt Alan Gilbert überraschenderweise in verbeulten Jeans, bleichem Philharmoniker-Sweatshirt und weißen Turnschuhen vor das Publikum. Er stimmt in charmanter Entertainer-Manier auf Magnus Lindbergs gigantischen Dreißigminüter „Kraft“ ein. Dicht und chaotisch drängen sich die Schlaginstrumente auf der Bühne, den Philharmonikern bleiben nur die Podiumsstufen. Neutöner Lindberg, so Gilbert in breitem Englisch, hat die Erlebnisse seiner jungen Berliner Jahre in den 80er-Jahren verarbeitet: den deutschen Punk, die Clubszene, Geräusche revolutionärer Stimmungen.

Es ist ein brutal unterhaltsames Sturm-und-Drang-Werk voller galoppierender Widersprüche, das dem finnischen Komponisten aus der Feder gespritzt ist. Anarchistisch und raffiniert geordnet zugleich. Ein unverkrampftes Sammelsurium genialer und dilettantischer Ideen. Ein Mordsspaß, bei dem Magnus Lindberg höchstpersönlich im Saal werkelt. Mal am präparierten Klavier, mal an abstrusen Schlaginstrumenten, mal ins Mikrofon zischend und stöhnend. Die philharmonischen Bläser schwärmen immer wieder in alle Himmelsrichtungen aus, um räumliche Effekte zu erzeugen. Auch die Instrumentalsolisten, allesamt wie Dirigent Gilbert in Jeans und Schlabber-Shirt, wuseln von einem Ort zum nächsten.

Geräuschempfindliche Ohren müssen leiden an diesem Abend. Lindberg torpediert die Zuhörer mit unvorstellbaren Lautstärken. Ein riesiges Tamtam ragt in Block A wie eine unheilvolle Drohung auf. Wuchtige Schallwellen schütteln das Publikum erbarmungslos durch. Die Philharmoniker explodieren, sie traktieren ihre teuren Instrumente, erzeugen schrecklichste Geräusche. Und damit wird klar: Wer sich so intensiv in dieses monströse Lindberg-Werk „Kraft“ hineinfräst, ist am gleichen Abend kaum mehr in der Lage, einen liebevollen Dvořák zu spielen. Traurig aber wahr: Die Philharmoniker haben den tschechischen Spätromantiker für die Neue Musik geopfert.