Literatur

Das neue Sakrileg

| Lesedauer: 7 Minuten
Lucas Wiegelmann

Dan Brown verrätselt Dantes „Göttliche Komödie“. Und nimmt dem Mystery-Thriller seine Unschuld

Die Sache mit Pi ist so geheim, dass nicht mal der Verlag weiterhelfen kann. Am Dienstagvormittag hatte Bastei Lübbe in einer Pressemitteilung noch mal auf das ominöse Datum hingewiesen: 14.Mai 2013, der weltweite Erscheinungstag von Dan Browns neuem Thriller „Inferno“. In amerikanischer Schreibweise lautet das Datum 5-14-13. Von hinten gelesen werden daraus die ersten Ziffern der Zahl Pi: 3,1415 (eigentlich müsste die vierte Nachkommastelle gerundet ja eine 6 sein, aber wer interessiert sich im Angesicht kosmischer Geheimnisse schon für Schulmathe). Was es mit Pi auf sich hat, hieß es in der Pressemitteilung, könne ab sofort jeder nachlesen, jetzt, da das meisterwartete Buch des Jahres endlich veröffentlicht sei. Wer sich da bereits die Nacht um die Ohren geschlagen und das um Mitternacht freigeschaltete E-Book gelesen hatte, war allerdings verwirrt, denn im Roman geht es nie um Pi oder Zahlencodes. Auf Nachfrage teilte Bastei mit, sie verstünden die Anspielung selber nicht, das sei eine Idee des US-Verlags gewesen. Werbetricks, die sich von Mund zu Mund weiterverbreiten, nennt man „virales Marketing“. Das passt zu diesem Buch. Da geht es auch um Ansteckungsgefahr. Und um die Frage, ob alles am Ende nicht doch nur heiße Luft war.

Zurück im alten Europa

„Inferno“ ist das vierte Abenteuer, in das Dan Brown seinen Harvard-Symbolforscher Robert Langdon schickt, nach „Illuminati“, „Sakrileg/Da Vinci Code“ und „Das Verlorene Symbol“. Beim letzten Mal entschlüsselte der Tweedjackett-Liebhaber noch Freimaurerschatzkarten in Washington. Jetzt ist er zurück im alten Europa, was einem Eingeständnis gleichkommt: Es braucht eine richtig alte Stadt mit genügend Mythen, damit Dan Browns Gemisch aus kunstgeschichtlichen Fakten und fiktiver Verschwörung sein volles Potenzial entfalten kann. Vergleichsweise aktuelle Neugründungen wie Washington taugen dafür nicht. Diesmal schickt Brown sein Personal nach Florenz, in die Geburtsstadt Dantes – und zur Sicherheit auch noch nach Venedig und Istanbul.

Vor historischer Kulisse entfaltet Brown sein bewährtes Muster: Langdon hetzt von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, um eine Katastrophe abzuwenden. Diesmal geht die Gefahr von einem Wissenschaftler aus, dem Schweizer Milliardär und Biochemiker Bertrand Zobrist. Der ist überzeugt, dass die Weltbevölkerung zu rasch wächst und die Menschheit über kurz oder lang ins Chaos schlittert: Kriege um Ressourcen werden die Folge sein. „Ozonschwund, Wassermangel, Umweltverschmutzung – das alles sind nicht die Krankheiten, sondern ihre Folgen! Die Krankheit ist die Überbevölkerung.“ Ihm schwebt eine radikale Lösung vor: die Bevölkerung von 7,5 auf vier Milliarden nach unten korrigieren. Ein monströses Opfer, aber ein notwendiges, um den Fortbestand der Spezies zu sichern, glaubt Zobrist: „Der Weg zum Paradies führt direkt durch die Hölle, wie Dante uns gelehrt hat.“

Zobrist ist entschlossen, dieses Opfer zu bringen. Er deponiert eine biologische Zeitbombe an einem geheimen unterirdischen Ort, wobei lange unklar ist, was genau dort lagert. Ein Virus? Ein Pesterreger? Zobrist selbst kann dazu nicht mehr vernommen werden; er hat sich bereits im Prolog vom Turm der Badia Fiorentina gestürzt, um sein Geheimnis zu schützen. Aber natürlich nicht, ohne einen verzweigten Dante-Code hinterlassen zu haben, mit dessen Hilfe man die gefährliche Hinterlassenschaft doch noch neutralisieren kann. Jedenfalls glaubt Robert Langdon das. Professor Langdon weiß zunächst gar nicht, was er in Florenz zu suchen hat. Er leidet nach einer Schussverletzung am Kopf an Amnesie und erwacht in einem Florentiner Krankenhaus. Als auf der Intensivstation eine Attentäterin auftaucht, flieht er mit der diensthabenden Ärztin Sienna Brooks, einer gebürtigen Engländerin. Sie übernimmt die obligatorische Funktion der weiblichen Langdon-Helferin. Die Hübsche ist 32 Jahre alt, ihr IQ beträgt 208, auf Seite 81 verliebt sie sich in Langdon. Der erinnert sich nur allmählich an die vergangenen Tage. Und daran, dass er in Florenz einer Funktionärin der Welt-Gesundheitsorganisation bei der Suche nach Bertrand Zobrists Erreger helfen wollte.

Diese Funktionärin, die silberhaarige Dr. Elizabeth Sinskey (eine Anspielung auf das englische „sin“ – Sünde), verkörpert den thematischen Kern des Romans: Segen und Fluch des technischen Fortschritts, den Gegensatz zwischen medizinischer Allmachtsutopie und menschlicher Beschränktheit. Als Kind war Sinskey schwer asthmakrank. Eine neuartige Steroidhormontherapie rettete ihr Leben, „wie durch ein Wunder“. Doch bald zeigte sich die Nebenwirkung: Sinskey wurde unfruchtbar. Dan Brown wollte diesmal nicht einfach nur eine Vorlage fürs Popcorn-Kino schreiben. Wie bei einem ARD-„Tatort“ versucht er, seine Actionszenen zu verbinden mit einem relevanten Problem: der Überbevölkerung. Als ob er dem Unterhaltungsgenre Mystery-Thriller seine Harmlosigkeit nehmen wollte. Seine Unschuld.

„Das Konsortium“ lenkt

Er lässt Robert Langdon und Sienna Brooks allerdings nur wenig Gelegenheit, über Populationskurven zu philosophieren. Gejagt von einer einflussreichen Geheimorganisation, die nur „das Konsortium“ genannt und von einer 300-Millionen-Dollar-Yacht in der Adria aus gesteuert wird, gehetzt von der italienischen Polizei und der amerikanischen Regierung, stürzen beide durch die Altstädte und entschlüsseln Hinweise: Auf dem Botticelli-Gemälde „Mappa dell’Inferno“, über der Kassettendecke im Palazzo Vecchio und sogar auf der Totenmaske Dantes. Weitere Spuren finden sich im Markusdom in Venedig und in der Hagia Sophia.

Dieses Katz-und-Maus-Spiel ist aus den Vorgängerbüchern bekannt, und es empfiehlt sich, nicht mehrere Langdon-Romane in kurzer Folge hintereinander zu lesen, sonst ermüden die Europe-in-one-week-Schnitzeljagden. Aber immerhin variiert Brown seine hinlänglich bekannte Standardpersonenkonstellation. Nicht der obligatorisch in der Mitte des Buchs auftauchende freundliche Helfer entpuppt sich am Ende als Schurke. Sondern alle Beteiligten haben Geheimnisse. Wenn der Leser sie alle kennt, erscheint die ungeheuerliche Tat des Professors Zobrist in einem anderen Licht.

So schafft Brown beim Showdown die von der Gattung vorgeschriebene unvorhersehbare Wendung. Und hinterlässt doch einen faden Nachgeschmack, weil diese Wendung in einem bizarren Plädoyer für Eugenik mündet. Sienna Brooks formuliert am Ende eine fragwürdige Moral von der Geschichte: „Wir sollten unsere Technologie dazu einsetzen, die Spezies voranzubringen und Menschen zu erschaffen, die gesünder, stärker und widerstandsfähiger sind und bessere Gehirne besitzen. Es dauert nicht mehr lange, bis all das möglich ist.“ Postuliert der bisher apolitische Dan Brown hier wirklich einen Übermenschen? Rassenoptimierung ohne lästige ethische Fragen? Das wäre ein Sakrileg, das den Namen verdient. Langdon jedenfalls widerspricht seiner Gefährtin nicht.

Dan Brown: Inferno. Lübbe, 688 Seiten, 26 Euro