Oskar Rösingers Gesicht ist von einer sehr großen Nase verunstaltet. Der 26-jährige Langzeitstudent gilt als besonders hässlich. Nur Lisbeth, die Tochter seiner Hauswirtin, kann sich für ihn erweichen. Immerhin darf er sie manchmal oben ohne sehen. Fummeln ist auch drin. Aber unten ist tabu. Also bohrt er ein Loch in die Badezimmertür, um Lisbeth zu beobachten.
All das hat der in Berlin lebende Theodor Heinrich Schmidt herausgefunden. Der Sohn eines Potsdamer Astrophysikers und einer Katechetin ist 32, war auch mal Langzeitstudent. 10 Semester Germanistik und Geschichte, dann abgebrochen. Zugegeben, seine Nase ist auch groß. Aber Theo steht das. Seit zehn Jahren schon sammelt der junge Herr, dessen Lieblingsfarbe bordeauxrot ist – er trägt sie am ganzen Körper: Schuhe, Hose, Socken, Pullover, alles bordeauxrot – alte Handschriften. Meistens Tagebücher, aber auch Briefwechsel. Seit zwei Jahren lebt er vom Handel damit. Über das Internet kauft und verkauft er seine antiquarischen Schätzchen.
Die Rechnung ist einfach, wie Schmidt in seiner Neuköllner Küche berichtet. An der Wand hängt ein Portrait von Nick Cave. Die Mitbewohnerin kommt vom Einkauf zurück, alles bio natürlich. Der Händler beißt in ein Gurken-Senf-Käse-Brot, frisch aus dem Ofen, der Käse zerläuft richtig schön langsam und Schmidt sagt: „Information ist gleich Geld. Wenn etwas nicht gut beschrieben ist, dann kaufe ich das. Mache Fotos, extrahiere den Inhalt und schon kriege ich mehr Geld.“
Aber so abgeklärt, wie Schmidt das in diesem Satz darzustellen scheint, ist er nun wirklich nicht. Ihn treibt eine quasi-amouröse Leidenschaft an, Blicke in andere Leben, anderer Zeiten zu erhaschen und ein Publikum daran teilhaben zu lassen. Deswegen handelt er nicht nur, sondern präsentiert auch auf Lesungen seine ungewöhnlichsten Fundstücke. Er möchte anhand von all diesen intimen Schriften einen Überblick über die Dinge erhalten, die uns antreiben. Trotzdem bekommt er dann 112,11 Euro für drei Kriegstagebücher eines Flak-Helfers im Zweiten Weltkrieg. Oder Schmidt verlangt 3000 für ein Choralbuch von 1738. Aber er ist ja nicht bloß Händler, sondern auch Entdecker, und das kann man sich was kosten lassen.
Rösingers Niederschrift „Lisbeth nackt“, 1890 in Leipzig verfasst, ist kaum zu entziffern. Um in den Kopf des liebenswürdigen Perversen zu schauen, muss sich Schmidt über mehrere Tage die undeutliche Schrift erschließen. Dafür war das Germanistik-Studium wohl doch gut. Rösingers Federführung ist mehr wellenförmiges Kratzen als eine Schrift. Dazwischen sind herrlich naive Zeichnungen von Lisbeths Unterkörper, den er ja nur heimlich sehen durfte. Daneben stehen dann Zeile wie diese: „Die Aufregung war eine kolossale, und doch sah ich im Grunde wenig mehr als bisher: nur den Anfang der Arschlücke, der allein allerdings ganz allerliebst war, aber nicht sah ich die volle Breite des Arsches, nur den Anfang bisweilen des Dickbeines, die breit, ziemlich fest und frisch aussahen, auch eine herrliche Gegend. Man möchte die breite Handfläche darauf legen, weiter nichts, höchstens etwas drücken mit den obersten Gliedern der Finger hinumlegen, und in horizontaler Richtung hin- und herstreichen.“
Schmidt ist schon stolz, wenn er durch seine Sammlung führt. Über 300 Tagebücher nennt er sein eigen. Manchmal liest er auch daraus, das nächste Mal am 30. November im Studio Hasenheide aus dem Tagebuch der Hilde S. 1928/29. Solch famos absurde Geschichten wie die von Rösinger allerdings würde er für kein Geld der Welt verkaufen. Er schätzt den Wert von „Lisbeth nackt“ auf 1000 Euro. Egal. Er beißt viel lieber noch mal in das Käsebrot, zwinkert Nick Cave zu, und sieht die Welt durch Oskars Augen.