Komische Oper

Ein richtiges Hippiefest

| Lesedauer: 8 Minuten
Jacqueline Krause-Blouin

Nur Leistungssport ist schöner: Zwölf Stunden Monteverdi an der Komischen Oper. Protokoll einer Marathon-Aufführung

9:15. Sonntag. Es passiert also wirklich, kein Traum. Es ist Sonntag, und um elf Uhr ist, tataaaa: Showtime! Ich kann eines Tages meinen Kindern erzählen: „Eure Mutter war mal 12 Stunden am Stück in der Oper.“ Der Australier Barrie Kosky, der neue Intendant der Berliner Komischen Oper, nimmt den Namen seiner neuen Arbeitsstätte wörtlich. Zu seinem Einstand hat er sich was ganz Verrücktes ausgedacht; eine Monteverdi Trilogie am Stück! „Odysseus“ folgt auf „Orpheus“, „Poppea“ auf „Odysseus“. Nette Idee, für die man ihn zugleich küssen und würgen möchte. Doch der Ansatz ist genau richtig, die Komische Oper braucht solch abenteuerliche Impulse. In Zukunft will Kosky die Tradition des Hauses im Bereich Unterhaltungstheater weiterführen, in den drei einzigen komplett überlieferten Barockopern Claudio Monteverdis sind all diese Anlagen bereits zu finden.

Heute wird sich meine Erfahrung als ehemalige Leistungssportlerin auszahlen, denn eins habe ich gelernt: Vorbereitung ist alles. Also: Magnesiumtabletten im Wasser aufgelöst und ran an den Teller Spaghetti – die Power werde ich brauchen. Im Zuge meiner Internet-Recherche gab ich folgende Schlagwörter in die Suchmaschine ein: Lange+Sitzen+Kissen. Ergebnis: Ein Meditationskissen, ein Keilkissen und ein Furzkissen. Schließlich packe ich doch mein Flugkissen ein. Überhaupt bin ich – unter normalen Umständen eine unbedingte Verfechterin des Wann-Immer-Möglich-Glamourös-Aussehens – heute eher für einen Langstreckenflug gekleidet als für eine Opernpremiere und fühle mich entsprechend schlecht, als ich all die Abendkleider sehe. Berlin hat sich trotz drohendem Marathon fein gemacht. (Ein Sitzkissen hat übrigens niemand dabei.)

10:59 Reihe 8, Platz 19/rechts. Das Haus ist ausverkauft. Aber so hart wie ich ist bestimmt niemand, oder gibt’s es hier noch andere Leute, die sich freiwillig drei Opern an einem Tag ansehen? Die Dame mit dem schwarzen Turban geht bestimmt nach „Orpheus“ zum Pferderennen.

11:05 Das Bühnenbild ist ein unendlicher Garten Eden. Tanzende Menschen in knappen Kostümen lassen vergnügt falsche Tauben fliegen und sehen dabei unverschämt gut aus. Manche küssen und streicheln sich und besingen fröhlich die Liebe zwischen Orpheus und Eurydike. Ein richtiges Hippiefest. Noch bin ich verzaubert, aber man ahnt mal wieder, dass das nicht gut gehen kann. Orpheus freut sich etwas zu sehr seines Glückes und erzürnt so die Götter. (Notiz an mich selbst: ab jetzt immer heimlich freuen). Orpheus (Dominik Köninger) ist eine Augenweide, seine Stimme rührt zu Tränen und vor allem: Er ist ein Schauspieler. Man kann seinem inneren Monolog folgen – da ist keine ungefüllte Sekunde, jede Bewegung hat eine Bedeutung. Man glaubt ihm und jeder im Raum teilt seine Trauer über den Verlust der Geliebten, der etwas blassen Eurydike.

12:13 Mitten in Orpheus’ rührenden Gesängen, die Charon, den Wächter des Totenreichs erweichen sollen, klingelt ein Handy zwei Sitze von mir entfernt. Die Störerin besitzt tatsächlich die Frechheit, ihren Blick auf MICH zu richten und mit den Augen zu rollen. Ich erröte – na wunderbar, jetzt sehe ich erst recht verdächtig aus. Ich schäume vor Wut. Wo ist mein Orpheus, der zur Rettung eilt? Überhaupt muss Eurydike Orpheus ziemlich beeindruckt haben, dass er für sie freiwillig ins Totenreich hinabsteigt. Frage mich, ob es solche Männer heutzutage noch gibt? Der junge Herr in Loge eins vielleicht?

Verspielt und sehr sexy

ca. 13 Uhr Orpheus steigt ins Himmelreich empor und erlangt Unsterblichkeit. „Bravo!“-Rufe schallen Dominik Köninger zu Recht entgegen, meine Sitznachbarin wischt sich ihre Tränen ab, die Handyfrau lacht mich unschuldig an. Doch mein Blick ist kälter als der der Schlange, die Eurydike zu Tode gebissen hat. Barrie Kosky hat nicht zu viel versprochen, er hat uns alle, wie Kinder, in eine Traumwelt gezogen. Eine sehr verspielte, sexy, aber trotzdem hoch konzentrierte Inszenierung für alle Altersklassen. Technisch einwandfreier Gesang trifft fröhliche Choreografien, mit Tänzerinnen, die aus „Grease“ entsprungen sein könnten und Kostümen, schwuler als alles im Friedrichstadtpalast.

14:30 Bin guter Dinge, dass ich den Marathon ohne Mühe meistern werde. Dank Koskys fesselnder Inszenierungen denke ich nicht einmal mehr an dieses verrückte Experiment. Habe Spaß. Aha, Nachbarin links hat schon aufgegeben. Entdecke aber doch auffällig viele Zuschauer aus Part 1. Amor (Peter Renz) ist auch wieder da, er wird das verbindende Element der drei Stücke. Denn es geht immer um große Liebesgeschichten und Amor ist der Boss, das müssen wir verstehen. Das Bühnenbild ist diesmal karg und herbstlich.

14:45 Penelope klagt uns ihr Leid. Seit 20 Jahren wartet sie auf ihren geliebten Odysseus. Ezgi Kutlus reißt die Augen auf beim Singen, ihr dunkler Mezzosopran erreicht mich, sie tut mir leid.

15:15 Okay, Penelope nervt mit ihrem Gejammer. Ja, sie trauert und hat seit 20 Jahren keinen Mann mehr angerührt. Habe einen ersten Tiefpunkt und kann kaum glauben, dass das, was ich sehe, vom gleichen Regisseur sein soll. Hier ist im Gegensatz zu „Orpheus“ praktisch nicht inszeniert worden. Beschäftige mich also mit den Instrumenten aus dem Fernen Osten (Kora, Oud und Theorbe), die musikalisch anspruchsvoll die Phrasen unterlegen. Die Überlegung war wohl, die Musik in den Vordergrund zu stellen, leider funktioniert das nicht und die Handlung ist auch ziemlich dünn.

Erste Verschleißerscheinungen

15:50 Fange an zu zählen, wie oft sich „Schmerzen“ mit „Herzen“ reimt.

16:12 Ein älterer Mann in Reihe fünf ist eingenickt, das Lachen des Publikums lässt ihn aufschrecken. Nach der Pause nimmt das Stück Fahrt auf. Um 17:26 kommt es endlich zum Showdown: Penelope versteht, dass es sich beim verkleideten Bettler um ihren Odysseus handelt (auch dies ein langer Prozess). Das Publikum rastet beim Schlussapplaus förmlich aus; ich finde das übertrieben. In der Pause diskutiert man nicht mehr über das komplett neu übersetzte Libretto, sondern darüber, welcher Drink wach hält.

19:00 Endspurt. Frage mich, warum „Poppea“, die längste der drei Opern (3,5 Stunden) als letzte gezeigt wird. Psychologisch sehr fragwürdig. Die Dame mit dem Turban ist ja doch noch da – Respekt.

19:20 Wow! Octavia (Helene Scheidermann) soll mich adoptieren. Fantastische Stimmen haben hier alle, aber Scheidermann hat noch eine wahnsinnig klare Figur kreiert. Sie ist cooler als Joan Collins im „Denver-Clan“. Koskys Inszenierung ist kälter als „Orpheus“. Wunderbar hat er die Bitterkeit des Lebens eingefangen, immerhin war Monteverdi beim Komponieren rund 30 Jahre älter. Plötzlich findet man Stilmittel aus dem typisch deutschen „Angst“-Theater (viel Sex, viel Blut).

20:23 Frage mich, wie André de Ridder immer noch so engagiert dirigieren kann. Sein Hemd hat er mehrfach gewechselt.

22:27 Die Liebe von Poppea und Nero mündet im zarten „Dich nur sehen“, dem berühmten Liebesduett. Wunderschön gesungen zwar, aber doch zu lieblich. Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Beschließe, klar im Team Octavia zu sein – der heimlichen Heldin des Abends.

22:35 Es ist geschafft. Der Applaus will gar nicht abbrechen, Standing Ovations krönen den Marathon. Genau weiß man nicht, wem der Applaus gilt – den hervorragenden Darstellern, dem Orchester, dem mutigen Regisseur oder den ausdauernden Zuschauern selbst? Ich jedenfalls klatsche auch ein wenig für mich selbst.