Kracht wohnte überall und nirgendwo: Argentinien, Kathmandu, Singapur. Seine Romane handeln vom Reisen, "Faserland" ging bedrogt quer durch Deutschland, "1979" in den Iran und am Ende in ein Straflager in China. Sein letztes Buch führte durch die Schweiz, dort herrschte Krieg und das Land war eine Sowjet-Republik. Nun ist Christian Kracht trotzdem wiedergekommen. Zusammen mit dem amerikanischen Künstler David Woodard las er im MD 72 aus ihrer gemeinsamen E-Mail-Korrespondenz zwischen 2004 und 2009, die unter dem Namen "Five Years" erschien.
Der schönste Stuck verziert die Decken der riesigen Altbauwohnung am Mehringdamm 72. Kracht steht im Flur und raucht eine von vielen Marlboro Lights. Seine Pausbacken, die rosige Haut lassen den 45-jährigen wie Ende zwanzig wirken. Um ihn herum trinken die Gäste Grauburgunder oder Bier. Die Frauen tragen geflochtene Haarkränze, teure Täschchen, die Männer braune Sakkos, unifarbene Pullover, aus denen oben offene Hemdkragen ragen. Sie sehen ein wenig aus wie das Sylter Publikum, über das sich Kracht 1995 noch lustig machte, damals in seinem Roman-Debüt "Faserland". Jetzt steht er mitten unter ihnen, klein, ein bisschen aufgeregt, und redet mit seinem Verleger, der aussieht wie Jonathan Safran Foer.
Am Anfang ging es um eine Begonie. Für seine Literaturzeitschrift "Der Freund" wünschte sich Christian Kracht einen Essay Woodards über "Kimjongilia", eine Blume eigens gezüchtet zum 46. Geburtstag der nordkoreanischen Gottheit. Weisheit, Liebe, Recht und Frieden soll sie repräsentieren; die Blume. Kracht verfasst eine E-Mail die mit "Dear David Woodard" beginnt, er schließt sie mit "Christian Kracht Publisher". Drei Tage passiert nichts. Danach die Antwort Woodards. Er willigt ein, anstatt der veranschlagten 650 $ möchte er 666.
Traumtanzende Weltenbummler
Woodard und Kracht teilen die Begeisterung, Absurdes, Menschenverachtendes, Geheimnisvolles zu erkunden, zu inszenieren. Beide sind traumtanzende Weltenbummler, die aus Langeweile Großes tun. Wenn sie gemeinsam darüber sprechen, "Elisabeth-Nietzsche"-Maté-Tee anzubauen, und das in Nueva Germania, einer einstigen Siedlung von deutschen Antisemiten mitten in Paraguay, kann man nicht anders als laut lachen. Die beiden Hallodris lachen gar nicht, sie tun stets bierernst, flüstern fast, das macht es noch viel komischer. Abwechselnd lesen sie aus ihren digitalen Briefen. Auf Englisch. Bei Kracht klingt das bemüht gestelzt. Ohne hinzuschauen steckt er sich eine Zigarette in den Mund, Woodard gibt ihm Feuer. "Dear Christian", "Dear David", immer und immer wieder überbieten sie sich in noch größeren Sympathiebekundungen ihrer Werke, dazwischen Ideen, die Nazi-Enklave wieder aufzubauen, vielleicht sogar eine Bibliothek deutscher Sprache zu etablieren. Mal antwortet Kracht erst nach Tagen, weil in Kathmandu, dem Redaktionssitz von "Der Freund", ein Putsch stattfindet, die Maoisten ihn bedrohen.
Die Zuhörer sitzen dicht an dicht in vier verschiedenen Räumen. Ein Zimmer ist mit einer Tür nach rechts verbunden, die anderen zwei gehen gerade nach hinten weg. Bei jeder kleinen Bewegung knarzt das Parkett. Im letzten Raum hört man nur Flüstern. Alle wollen ein Stück von Kracht haben, sie beugen sich durch die Türrahmen, um einen Blick zu erhaschen, nicht zu lange, um nicht die Sicht zu versperren. Den Inhalt der Korrespondenz entschlüsseln wollen die wenigsten. Man ist nicht gekommen, um etwas zu verstehen, sondern um mit dem Daumen am Kinn und dem Zeigefinger an den Lippen herumzudenken. Einfach weil Kracht da ist. Während der liest, starrt der Amerikaner auf den Tisch, auf die vielen Zigaretten, auf den Mont Blanc, der vor ihm liegt. Wie hypnotisiert von seiner Dream Machine, der Überarbeitung einer Lichtapparatur, die schon William S. Borroughs begeisterte. Am Ende signieren die beiden. Kracht trägt immer noch die Hornbrille, die er zum Lesen vorgab zu brauchen. Ernst, Inszenierung? Wer weiß das schon. Er spricht so leise wie schon den gesamten Abend. Die Fenster werden geöffnet, der Rauch zieht nach draußen.