Berliner Morgenpost: Herr Prof. Baring, waren Sie überrascht von Günter Grass' Bekenntnis?
Berliner Morgenpost: Herr Prof. Baring, waren Sie überrascht von Günter Grass' Bekenntnis?
Arnulf Baring: Ja. Bei jemandem, der so stark wie er in der Öffentlichkeit die mangelnde "Bewältigung" der NS-Vergangenheit angemahnt hat, hätte ich schon erwartet, dass er sich früher geäußert hätte. Zumal es ja genügend Gelegenheiten dazu gegeben hätte - denken Sie nur an den Besuch von Kohl und Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg 1985. Grass hat immer die Unzulänglichkeit deutscher Vergangenheitsbewältigung angeprangert. Wer hätte ahnen können, dass er im Kern sich selber meinte?
Wie beurteilen Sie als Zeithistoriker den Dienst eines damals 17-Jährigen bei der Waffen-SS?
Man sollte grundsätzlich bei dem, was junge Leute dieses Alters getan haben oder auch heute tun, nachsichtig sein. Es handelt sich ja nicht um Menschen mit vollem Urteilsvermögen - zumal, wenn man an die aufgeheizte Atmosphäre der Kriegsjahre denkt. Da konnte jemand wie Grass kaum zu anderen Schlussfolgerungen kommen, als in der Waffen-SS eine tolle Herausforderung zu sehen.
Wird das Bekenntnis seinen Status als Moralinstanz erschüttern?
Als ich davon las, fiel mir Carola Stern ein. Sie hat auch erst spät bekannt, dass sie in ihrer Jugend, der Zeit an der SED-Parteihochschule in Kleinmachnow, für die CIA gearbeitet hatte. Dafür ist sie auch angegriffen worden - die CIA ist ebenfalls eine Reizvokabel. Aber aufs Ganze gesehen hat das ihrem Renommee nicht geschadet, sondern ihre Glaubwürdigkeit erhöht. Es wird sicher Leute geben, die Grass seinen Dienst in der Waffen-SS und sein langes Schweigen darüber übel nehmen werden. Seit Jahrzehnten nervt auch mich seine fanatische, oft politisch ahnungslose moralische Wichtigtuerei. Insgesamt aber wird der Fall eher zum besseren Verständnis der Vergangenheit beitragen: Das Bild des Dritten Reiches muss in dem Sinne zurecht gerückt werden, als man die damaligen Sichtweisen, die damaligen Möglichkeiten stärker berücksichtigen muss. Nicht jeder, der in der NSDAP oder gar der Waffen-SS war, muss deshalb verbrecherische Ziele verfolgt haben.
Ist die "Vergangenheitsbewältigung" neu zu bewerten?
Der Furor, mit dem einige der wichtigsten Wortführer des linken Establishments zu Werke gingen, hatte augenscheinlich damit zu tun, dass sie sich selbst Vorwürfe machen mussten und das Schuldgefühl dann verdrängten und auf andere gelenkt haben. Ich vermute, der Fall Grass wird zu einem gelassenen und damit gerechteren Urteil über die Verstrickung vieler Deutscher in den Nationalsozialismus führen.
Hätte Grass den Nobelpreis auch bekommen, wenn sein Waffen-SS-Dienst bekannt gewesen wäre?
Das kann ich schwer beurteilen. Er hat den Preis ja nicht für seine politischen Aktivitäten bekommen, sondern für sein Frühwerk, das tatsächlich meisterhaft ist. Insofern hat er die Ehrung verdient. Andererseits weiß man nie, wie eine solche Nachricht seinerzeit in anderen Ländern gewirkt hätte
Das Gespräch mit dem Berliner Historiker führte Sven Felix Kellerhoff