Noch vor seiner Vollendung avancierte der Potsdamer Platz zum Mythos. Grund genug für Kulturwissenschaftler, das pulsierende Herz Berlins mit interdisziplinären, wenn auch teils hanebüchenen Ansätzen neu zu vermessen.

Gegen Ende des Vorstellungsgespräches wurde es brenzlig. Ob ich Berlin überhaupt kenne, fragte der Leiter der Journalistenschule. Schließlich würde ich, sollte ich das Volontariat bei der Berliner Morgenpost bekommen, viel in der Stadt unterwegs sein. Ortskenntnisse wären da von Vorteil. Ich schluckte. Und bekannte in einem Anflug von Tollkühnheit, ich sei zwar erst einmal für ein Wochenende in Berlin gewesen, hätte aber schon sehr viel über die Stadt gelesen. Die Mitglieder der Bewerbungskommission feixten. Das Volontariat bekam ich dann trotzdem.

Vier Monate später, im Oktober 1997, war Ausbildungsbeginn. Sinnigerweise in der Lokalredaktion. Meine erste Mission war ehrenvoll, konfrontierte mich aber sofort mit dem im Vorstellungsgespräch ruchbaren Problem. Ich möge zum Potsdamer Platz gehen, sprach mein Ressortleiter. Dort sollte mit der debis-Zentrale das erste Haus am Platze vorgestellt werden. Mir schwirrte der Kopf. Potsdamer Platz? Erstes Haus? Entsprechend intensiv fiel später das Redigieren meines ersten Artikels aus.

Mittlerweile kenne ich Berlin recht gut. Lokalredaktionsgestählt, versteht sich. Und behaupte dennoch, dass sich örtliche Sachverhalte auch durch Lektüre erschließen können. Etwa anhand jener der von Joachim Fischer und Michael Makropoulos herausgegebenen Aufsatzsammlung "Potsdamer Platz", die "Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne" versammelt (Wilhelm Fink, München. 242 S., 29,90 Euro).

Obwohl es etwas dauern kann, sich in die Wissenschaftsprosa einzulesen, überzeugen doch die Kenntnisse der Beiträger wie auch ihre steilen Gedankengebäude, die den himmelstürmenden Bauten im Herzen Berlins kaum nachstehen. Mal ehrlich, wer hätte sich beim Shopping in den Arkaden oder beim Absacker im Billy Wilder's je Gedanken darüber gemacht, wie sich die Architektur aus Sicht der Geschlechter-Studien darstellt?

Hannelore Bublitz und Dierk Spreen haben es getan. Mit verblüffenden Erkenntnissen, die den berüchtigten Vorwurf an Hochhäuser, sie seien phallisch, mithin Repräsentanten einer reaktionären patriarchalischen Gesellschaftsordnung, überbieten. Sie benennen die Bebauung als "Darstellung und Verkörperung einer historisch singulären Geschlechterkonstruktion". Dies insofern, als der Platz eine "konsumistische Wunschmaschine" sei, in der "das Geschlecht scheinbar frei vom Anderen konstruiert werden" könne. Diese Freiheit findet sich den Autoren zufolge nicht bloß auf den Leinwänden der Mulitplex-Kinos, in denen geistfreie US-Beziehungskomödien laufen. Sondern auch drum herum.

Im Sony-Innenhof visualisiere sich ein Pendant zu Marcel Duchamps "Junggesellenmaschine". Die gewölbte Kuppel symbolisiere Weiblichkeit, die selbsttragende Konstruktion das Männliche; für ihre Vereinigung in einem anorganischen, seelenlosen Techno-Körper stehe die transparente gläserne Fläche. Das anorganische Männliche - man darf da die Augenbrauen heben. Leider wird nicht geklärt, was es bedeutet, dass dort während der EM Tausende Männer und Frauen Männern beim Fußball spielen zuschauen. So aktuell ist die Theorie dann doch nicht.

Ungleich einleuchtender, wenngleich etwas anachronistisch mutet der Ansatz von Christine Resch und Heinz Steiner an. Ihnen zufolge wird am Potsdamer Platz "Herrschaftsdarstellung vorgeführt - als Aneignung eines Stadtzentrums durch mächtige Wirtschaftskonzerne und in Form von Überwältigungs-Architektur". Im Rekurs auf die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer mutmaßen die Autoren im Aufbau des Platzes die Realisierung einer "Kontroll-Fantasie von einer Innenstadt, in der alles geordnet ist".

Als vielschichtigste Analyse des Phänomens kommt der Beitrag des Mitherausgebers Joachim Fischer daher, der den Platz philosophisch-anthropologisch, nun ja, einzuzäunen versucht. Fischer vertritt die These, dass das städtebauliche Anknüpfen an frühere Strukturen bei der Neubebauung (statt eines radikalen Neuanfangs) auf die Souveränität und das Selbstbewusstsein des Bürgertums weist. Die teilweise Wiederherstellung der Platz-Topografie stehe mithin für die Rekonstruktion eines bürgerlichen Selbstbildnisses, das durch den Nationalsozialismus beschädigt worden war.

Weitere Aufsätze beleuchten den Platz diskursanalytisch, systemtheoretisch, semiologisch, mit Hilfe der Rational-Choice-Theorie und der Cultural Studies. Man muss diese Ansätze nicht kennen, um den mit viel Lokalkolorit versetzten Band mit Erkenntnisgewinn zu lesen.

Ich jedenfalls würde die Lektüre des Buches als Beweis für Ortskenntnisse anführen. Für den Rest gibt es schließlich reichlich Wegweiser in Berlins Babylon. Dessen Vielstimmigkeit sollte übrigens dringend mal ein Musikwissenschaftler untersuchen.