Alte Wölfe, junge Hunde

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Peter E. Müller

Trotz wirtschaftlicher Flaute boomte 2002 das Konzertgeschäft. Hohe Eintrittspreise schreckten das potenzielle Publikum nur selten ab. Die Großkonzerte des Jahres waren (fast) alle ausverkauft. Und der Nachwuchs besinnt sich wieder der alten Werte des Rock 'n' Roll.

Ein Bass wie mit dem Handbohrer malträtiert. Feedbackorgien aus der Gitarre. Ein unaufgeregt treibendes Schlagzeug. Mit dem Black Rebel Motorcycle Club stellte sich Anfang des Jahres ein Trio aus San Francisco im Knaack-Club vor, das mit Kollegen wie den Strokes oder den Red Stripes, den Vines oder auch Ryan Adams in diesem Jahr eine wuchtige Schneise puren Rocks durchs Einerlei des gängigen Pop schlug.

Ein schwerer samtroter Vorhang, eine flirrende Leuchtschrift, eine großartige Band mit einem phänomenalen Thin White Duke. Der Berliner Herbst hatte mit David Bowies Gastspiel in der Max-Schmeling-Halle seinen Höhepunkt. Junge Hunde und alte Wölfe prägten das vergangene Rock- und Pop-Konzertjahr.

Der bodenständige Rock, der in den vergangenen Jahren im eher kleinen Kreis seinen Stillstand auslebte, gewann 2002 einiges an Boden zurück. Offenbar ist es ein Publikum irgendwann leid, Popgrößen auch im Konzert nur in CD-Qualität in primär coolen, ausgetüftelten Platten-Verkaufsshows zu erleben. Es gibt wieder einen Hunger nach rauer Spontaneität, nach lümmelhaften Jungspunden, nach aufmüpfigen Musikanten, die ihr lärmendes Rebellentum im Rampenlicht ausleben. Industriell maßgeschneiderte Newcomer lassen sich eben nicht auf immer und ewig am Fließband reproduzieren.

Auf den Rockbühnen machten die Alten vor, was die Jungen auf ihre unverbrauchte Art durch den Probenkellerwolf drehen. Da begeisterte Beach Boy Brian Wilson im Januar mit seinem Drei-Stunden-Spektakel, in dem er das «Pet Sounds»-Album nahezu komplett reproduzierte. Bob Dylan lieferte im April in der Treptower Arena ein denkwürdiges Konzert ab. «The Wall»-Schöpfer Roger Waters untermauerte im Juni in der Velodrom-Arena, dass Pink Floyd auch ohne David Gilmour und die anderen von Dauer ist. Und Bruce Springsteen machte im Oktober klar, wer der Boss ist. Prince und Paul Simon, Patti Smith und Bryan Ferry, ja, und auch Kylie Minogue sorgten für Star-Auftrieb. Eintrittspreise von 50 bis 100 Euro schreckten das Publikum dabei keineswegs ab. Manche Bands kamen gleich mehrfach. Lambchop sorgten beispielsweise im April in der Passionskirche und im September im Schiller-Theater für intime Stimmungen. Und Oasis versuchten gleich dreimal in diesem Jahr, für ihr neues Album einzunehmen. The Cure wiederum gastierten im November für zwei ausverkaufte Tage im Tempodrom - und spielten drei ihrer erfolgreichsten CDs komplett vor.

Wie dünn das Eis im hochpreisigen Konzertgeschäft geworden ist, zeigte allerdings das Elton-John-Gastspiel mit Band im Juni in der Max-Schmeling-Halle. Der Piano-Man spielte vor merklich gelichteten Reihen - und trieb den Berliner Konzertveranstalter Downtown damit in die Pleite.

Auch ohne Quote konnten sich junge Musiker aus Deutschland bewähren. Bands wie The Notwist oder Tocotronic machten sich neben Grönemeyer und Westernhagen, neben den Toten Hosen oder den Ärzten aus Berlin in den Charts breit. Letztere landeten mit ihrem MTV-unplugged-Konzert in einer Hamburger Realschule den großen Coup. Und auch in Berlin rührte sich einiges, von den Quarks über Mia und die Märtini Brös. bis zur poppigen 2Raumwohnung. Rock und Elektronik - man nutzt das beste beider Welten.

Stillstand machte sich indessen bei der DJ- und Mixerfraktion der reinen Lehre breit. Die Grenzen der Elektronika sind ausgelotet, die Wiederverwertbarkeit von Dancegrooves, nostalgischen Samples und aufgemischten Coverversionen hat ihre Halbwertzeit erreicht. Das teuerste Computer-Studio-Equipment nützt wenig, wenn sich musikalische Ideen aufs Baukastenprinzip des Recyclings beschränken. Um sich auf eine Bühne zu trauen, bedurfte es im Jahr des 25. Punkjubiläums mehr als eines Laptops.

Alte Wölfe und junge Hunde - an dieser Kombination wird sich auch im kommenden Jahr nicht viel ändern. Doch werden die Veranstalter vorsichtiger. Man plant weit voraus. Und läuft der Vorverkauf schlecht, sagt man das eine oder andere Konzert sicherheitshalber wieder ab. Wer das Jahr 2003 schon jetzt verplanen will, kann versuchen, für das Drei-Tage-Gastspiel von Herbert Grönemeyer in der Waldbühne (4. bis 6. Juni) noch ein Ticket zu bekommen. Oder für die Rolling Stones am 15. Juni im Olympiastadion. Oder R.E.M. am 4. Juli in der Waldbühne. Für gleich zwei Shows kommt Überflieger Robbie Williams am 8. und 9. Juli in die Wuhlheide. Jethro Tull kommen am 15. Juni ins Tempodrom. Und auch Carlos Santana weiß schon, was er am 5. September macht: da tritt er in der Max-Schmeling-Halle auf. Never Too Old To Rock 'n' Roll.