Alte Bekannte

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Hendrik Werner

Zu einer Reise in die Vergangenheit gerät dem Studenten Gabo die Zugfahrt nach Aracataca. An der Seite seiner Mutter, die der 23-Jährige begleitet, um das Haus seiner Familie zu verkaufen, setzt der Blick auf die vorbeihuschende Landschaft Kindheitsreminiszenzen frei. Bis schließlich alle Schienenstränge und verzweigten Gleise, die die Bahn passiert, Bahnungen der Erinnerung zu werden scheinen.

Einmal erlauben die verstaubten Fenster die flüchtige Aussicht auf eine Bananenplantage. «Macondo» steht auf ihrem Portal. Bei seinen ersten Reisen mit dem Großvater sei ihm der Name bereits aufgefallen, erinnert sich der Erzähler, um hinzuzufügen, er habe das Wort «bereits in drei Büchern als Name für ein imaginäres Dorf verwendet». Spätestens in dieser Passage des Textes, die auch eine des Gedächtnisses ist, wird deutlich, welch raffiniertes Projekt Gabriel García Márquez mit seiner Autobiografie verfolgt: eine verdoppelte Erinnerungsarbeit, die ein an Proust geschultes Duett von erinnerndem und erinnertem Ich nachspielt, das der erzählten Zeit die Zeit des Erzählens mit einschreibt. «Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben», lautet das der Chronologie des seit 1992 angekündigten Lebenstextes vorangestellte Motto, «sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen».

Wie Márquez davon erzählt, ist ein literarisches Ereignis. Nicht so sehr, weil hier die von Biografen bereits vermessene Vita des Nobelpreisträgers von 1982 besonders unmittelbar lebendig wird. Vielmehr weil er seinem Text zwischen Erinnern und Erfinden, gelebter Realität und literarischer Phantasie ein lateinamerikanisches Konstrukt einspeist, dem gegenüber er sich bislang zurückhaltend geäußert hatte: eine wunderbare Wirklichkeit, die das Selbstporträt des Künstlers als junger Mann als «Faction» lesbar macht, als spannungsvolle Mixtur aus gelebten Momenten und poetischer Fiktion. Márquez' Kompromiss, selbst zweifelsfreie Erinnerungen an Amouren und Literatenzirkel auf Authentizität zu befragen, erhebt die Selbstverschriftlichung in den Rang eines Unterhaltungsromans, dessen Lektüre ein gewohnt bildmächtiger Stil dynamisiert.

In der hispanischen Welt hat die erste Etappe der auf drei Bände konzipierten Memoiren für Aufsehen gesorgt: In Kolumbien, wo Buchhandlungen bei der Präsentation von «Vivir para contarla» die Nationalhymne spielten, wurden die ersten 20 Exemplare gestohlen, in Mexiko bot man zur Auslieferung Panzerfahrzeuge auf, in Bolivien kursierten kurz nach Erscheinen erste Raubkopien. Eine Million Exemplare betrug die Erstauflage - allein 600 000 in Spanien, der Rest in Lateinamerika. Gabo sells. Von heute an auch hier zu Lande.

Umso mehr, als seine poetische Erinnerungsarbeit detektivisch gestimmten Lesern viel Material an die Hand gibt, autobiografisch gefärbten Romane, zumal «Hundert Jahre Einsamkeit», lebensgeschichtliche Geheimnisse zu entlocken. Denn viele Wegbegleiter, die der Autobiograph einführt, sind alte Bekannte aus seinem literarischen Werk. Gabos erinnerndes Erzählen lässt sie neu und anders leben.

Gabriel García Márquez: «Leben, um davon zu erzählen». Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002. 604 S., 24,90 Euro