Rolf Schneiders Berliner Anthologie

Joachim Ringelnatz Unter den Linden

Unter den Linden, vom Pariser Platz

An, unter und neben den kleinen Linden,

Kann jedes Mädchen einen Schatz

Ganz leicht finden.

Da wird einem so gut wie zu Hause zumut. -

Den ganzen Tag tönt dort

Autogetut.

Aber alles versöhnt dort.

Da schwingt im Takt einer Einigkeit

Der Asphalt unter den Füßen.

Und Neuzeit, gute und alte Zeit

Gehn hell vorüber und grüßen.

Unter den Linden

Schwindet der Hass,

Sieht man immer etwas

Um die Ecke verschwinden.

© Diogenes Verlag. Zürich

«Unter den Linden!» ist von den mehreren Berlin-Gedichten des Joachim Ringelnatz (1883 - 1934) das vermutlich heiterste: auf den ersten Blick. In Anspielung auf den bekannten Operettenschlager über Berlins Prachtstraße werden die erotischen Möglichkeiten dortselbst - von denen zuvor schon Heinrich Heine in einem (früher hier abgedruckten) Vierzeiler wusste - nochmals hervor gehoben. Dass die neue in Gegensatz zu einer guten Zeit gesehen wird, muss allerdings misstrauisch stimmen. Die unmittelbar zuvor bejubelte Einigkeit erhält dadurch etwas Forciertes, und dass der Hass tatsächlich verschwindet, wird durch die abschließenden zwei Verse geradezu denunziert. Das Um-die-Ecke-Verschwinden hat etwas Unheimliches. Der Gedanke des Um-die-Ecke-Bringens liegt nahe. Was da so hell vorüber zieht und grüßt, könnte die braunen Uniformen von Adolf Hitlers SA tragen, beim Aufmarsch mit Fackeln zum 30. Januar 1933, an eben diesem Ort. Joachim Ringelnatz, kein politischer Dichter, wurde von den Nazis gehasst und verboten. Er starb das Jahr darauf, gerade 51 Jahre alt.