Berliner Herbst-Offensive

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Manuel Brug

«Wir schlafen», steht an der Volksbühne geschrieben und an der Philharmonie verkündet immer noch ein anachronistisches Abbado-Plakat: «Zum Raum wird hier die Zeit». Der schnarchige Eindruck täuscht, ist falsch wie der modische Berlin-Blues. In Büros und Probenräumen wird eifrig gewerkelt. Besonders im musikalischen Bereich startet das notorisch klamme Berlin - anders als etwa Frankfurt - eine Kultur-Offensive, wie es sie seit der Wende nicht mehr erlebt hat.

Alles neu macht der September. Auf drei Zentren konzentriert sich dabei das Interesse in diesem heißen Herbst. Da ist zum einen die Philharmonie. Der neue Intendant Franz Xaver Ohnesorg möchte sie zum Kampfstern ausbauen, von dessen Steuerkanzel aus er gemeinsam mit seinem Yedi-Ritter Sir Simon Rattle die internationale Musikwelt in Flammen setzt. Am 7. September hebt sich zu den Tönen von Thomas Adès und Gustav Mahler der Vorhang über einer Ära, die mit Vehemenz eine klang- und glanzvolle werden möchte. Auch unter dem geballten Flankenschutz seiner Plattenfirma möchte der 47-jährige Simon Rattle endlich das Image vom Golden Boy der Klassik abstreifen und zum Elder Statesman reifen.

Bereits heute Abend geben als erste sich neu positionierende Institution die Berliner Festwochen unter Joachim Sartorius den Startschuss der Berliner Kultursaison. Erst tanzt die Batsheva Dance Company, dann legt die Ex-Kultursenatorin und DJ-Novizin Adrienne Goehler heiße Scheiben in der Lounge auf, dass die Ohrringe wackeln. Festwochen-Theaterchef Markus Luchsinger setzt auf Performances in Privatwohnungen und die dramatischen Wonnen des Tunesiers Fadhel Jaibi. Dafür verabschiedet sich der Musikbeauftragte André Hebbelinck fast ganz von den tradiert klassischen Orchesterkonzerte. Es gibt moderne Musiktheater-Gastspiele und Schwerpunkt-Inseln um Klassiker wie Karlheinz Stockhausen oder Stefan Wolle und Neutöner wie Mark-Anthony Turnsage oder Olga Neuwörth. Während die Philharmoniker in Gestalt von Ohnesorg sich eifersüchtig verweigerten, sind die Deutsche Oper oder das Deutsche Symphonie-Orchester unter Kent Nagano Koproduktionspartner.

Umsonst und draußen startet morgen die Staatsoper Unter den Linden mit einem per Leinwand auf den Bebelplatz übertragenen Tripelkonzert ihrer Hauptdirigenten (Barenboim, Gielen, Nagano) sowie Doris Dörries «Così», Strawinskys «Mavra» auf dem Lastwagen und einem Konzert von Barenboims West-Östlichem Divan in die erste Saison des neuen Intendanten Peter Mussbach. Der will besonders mit vielen Außenproduktionen die Metropole aufmischen, ebenso das neue Team an der Komischen Oper, dem dritten aufgefrischten Musikfixpunkt. Andreas Homoki (Chefregisseur) und Kirill Petrenko (erst 30-jähriger Chefdirigent) feiern am 8. September mit einer lustvoll Ossi-Wessi-Klischees ausspielenden «Verkauften Braut» Einstand.

Berlin, die Stadt, wo - neuerdings und zumindest musikalisch - niemand mehr schläft.