Brecht versteht man heute auch in Kairo

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Martina Helmig

200 bis 250 Vorstellungen im Jahr, und das mit 63 Jahren: Milvas Universum reicht von Schlager bis zu Tango und Oper. Seit den sechziger Jahren wird die Italienerin als Brecht-Interpretin gefeiert. Heute ist ihr Potsdam-Debüt mit «Die sieben Todsünden»

Im Januar haben Sie eine Deutschland-Tournee mit dem Titel «Milva - gestern und heute» unternommen. Wo steht Milva heute?

Milva: Milva gestern war eine junge Frau mit einer schönen, interessanten Stimme. Heute bin ich eine reife Frau, die viel bewusster lebt. Ich fühle mich nicht mehr wohl, wenn ich Schlager singe, die immer nur von der Liebe handeln. Da wende ich mich lieber etwas Seriöserem zu. Zum Beispiel Luciano Berios Oper «La vera storia», mit der ich am 15. September in Hamburg Premiere habe, Piazzollas «Maria de Buenos Aires» oder eben den Werken von Bertolt Brecht.

Seit langem singen Sie Brecht-Vertonungen in der ganzen Welt. Treffen Sie in Deutschland auf ein tieferes Verständnis als etwa in Mailand, Tokio oder Kairo?

Heute nicht mehr. Vor 40 Jahren waren die Texte von Brecht in Italien und Japan noch wenig bekannt. In den letzten beiden Jahrzehnten ist das Verständnis für ihn in der ganzen Welt gewachsen. Selbst in Ländern wie Ägypten oder Uruguay steht man den Werken jetzt aufgeschlossener gegenüber. Trotzdem ist es für mich als Italienerin natürlich immer eine ganz besondere Herausforderung, Brecht in Deutschland zu interpretieren. Wenn ich in Dessau, in Chemnitz oder auch in Potsdam singe, darf ich mir einfach keine Fehler erlauben.

Hat Sie erst Ihr großer Mentor, der Regisseur Giorgio Strehler, auf Brecht aufmerksam gemacht?

Vorher kannte ich noch nicht einmal seinen Namen. Als ich 1965 angefangen habe, mit Strehler am Piccolo Teatro in Mailand zu arbeiten, studierte ich erstmals Lieder von Brecht ein. Ich habe eine tiefe Beziehung zu ihm entwickelt, weil ich mit seinen Gedanken vollkommen übereinstimme. Auch nach 60 oder 80 Jahren sind sie noch immer ungeheuer aktuell.

Kurt Weills Witwe, die Sängerin Lotte Lenya, hat Sie als bedeutende Fortsetzerin der Weill-Tradition bezeichnet. War das für Sie wie ein Ritterschlag?

Ja, dieses Glückwunsch-Telegramm war etwas ganz Besonderes. Es kam am Tag, nachdem ich gemeinsam mit ihr und zahlreichen anderen Brecht-Interpretinnen in Frankfurt auf der Bühne gestanden habe. Das war Anfang der siebziger Jahre das erste Mal, dass ich Brecht in Deutschland gesungen habe.

«Die sieben Todsünden» von Brecht und Weill singen Sie seit Jahren besonders häufig - lieber in der szenischen oder in der konzertanten Version?

In der ursprünglichen Ballettversion ist die Rolle der Anna geteilt. Eine Tänzerin ist zweite Anna. Mir ist die konzertante Form lieber, in der ich beide Annas geben kann. So wie jetzt in Potsdam. Das Publikum kann sich besser auf die Musik konzentrieren. Ich fühle mich in erster Linie als Brecht-Interpretin, aber hier steht die außergewöhnliche Musik von Weill im Vordergrund.

Nikolaisaal Potsdam, Wilhelm-Staab-Str.10/11. Heute 19 Uhr, morgen 20 Uhr. Tel.: 0331 / 288 88 28