Aufbruchsstimmung
Hoch über den Vororten
tragen rosig bestrahlte Gase
ihren stillen Kampf aus.
Unter raschen Wolkenfetzen
bröselt, champagnergebadet,
Beton. Am Potsdamer Platz
Wermutflaschen, die Penner
grübeln über den «Doppelsinn
von Sein und Seinsverständnis».
Einwände halten sich hier
in Grenzen. Pilgerscharen
in der Fußgängerzone
auf der Suche nach Identität
und Südfrüchten. Zuzügler
lassen valiumfarbene Scheine
auf der Zunge zergehn.
Auch links in der Beletage
finden Aufbrüche statt:
Gewissenhaft arbeiten Partner
an der Hinrichtung einer Ehe.
Haftschalen, tränenüberströmt,
im luxuriösen Smog. Blindgänger
fallen sich in die Arme.
Das Politbüro: ausgestorben.
Nur im Keller der Dichter
dichtet bei fünfzehn Watt
nach wie vor vor sich hin,
«um der Menschwerdung
aufzuhelfen». Gerührt
schweift das nasse Aug
über die frischen Sichtblenden.
© Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main
Hans Magnus Enzensberger , 1929 geboren im Kaufbeuren, war Zeit seines Lebens ein umtriebiger Geist. Eine Weile hat er in Berlin gelebt, im Westteil, ab 1965; hier betreute er die von ihm erfundene Zeitschrift «Kursbuch». Das hier wiedergegebene Gedicht liest sich zunächst wie eine Erinnerung an die sechziger Jahre. Dabei stammt es aus dem Lyrikband «Zukunftsmusik» von 1991. Die Leere im SED-Politbüro ist keine Metapher, sondern Realität. 1990/91 war der Potsdamer Platz noch nicht die viel besuchte Simulation von Manhattan, sondern städtische Ödnis. Die luxuriösen Zehlendorfer Tragödien waren und sind zu allen Zeiten die nämlichen.
Der Dichter sagt das mit jenem trainierten Sarkasmus, der sein lyrisches Markenzeichen wurde. Die Aufbruchsstimmung des Titels ist keine. Die Stadt schleppt ihre alten Lethargien mit sich fort. Aus dem zeitlichen Abstand möchte man solch böse Diagnose durch die Wirklichkeit widerlegt wissen. In Anbetracht der verpassten Möglichkeiten beschreibt Enzensberger leider nicht nur das Gestern.