Rolf Schneiders Berliner Anthologie

| Lesedauer: 2 Minuten

Aufbruchsstimmung

Hoch über den Vororten

tragen rosig bestrahlte Gase

ihren stillen Kampf aus.

Unter raschen Wolkenfetzen

bröselt, champagnergebadet,

Beton. Am Potsdamer Platz

Wermutflaschen, die Penner

grübeln über den «Doppelsinn

von Sein und Seinsverständnis».

Einwände halten sich hier

in Grenzen. Pilgerscharen

in der Fußgängerzone

auf der Suche nach Identität

und Südfrüchten. Zuzügler

lassen valiumfarbene Scheine

auf der Zunge zergehn.

Auch links in der Beletage

finden Aufbrüche statt:

Gewissenhaft arbeiten Partner

an der Hinrichtung einer Ehe.

Haftschalen, tränenüberströmt,

im luxuriösen Smog. Blindgänger

fallen sich in die Arme.

Das Politbüro: ausgestorben.

Nur im Keller der Dichter

dichtet bei fünfzehn Watt

nach wie vor vor sich hin,

«um der Menschwerdung

aufzuhelfen». Gerührt

schweift das nasse Aug

über die frischen Sichtblenden.

© Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main

Hans Magnus Enzensberger , 1929 geboren im Kaufbeuren, war Zeit seines Lebens ein umtriebiger Geist. Eine Weile hat er in Berlin gelebt, im Westteil, ab 1965; hier betreute er die von ihm erfundene Zeitschrift «Kursbuch». Das hier wiedergegebene Gedicht liest sich zunächst wie eine Erinnerung an die sechziger Jahre. Dabei stammt es aus dem Lyrikband «Zukunftsmusik» von 1991. Die Leere im SED-Politbüro ist keine Metapher, sondern Realität. 1990/91 war der Potsdamer Platz noch nicht die viel besuchte Simulation von Manhattan, sondern städtische Ödnis. Die luxuriösen Zehlendorfer Tragödien waren und sind zu allen Zeiten die nämlichen.

Der Dichter sagt das mit jenem trainierten Sarkasmus, der sein lyrisches Markenzeichen wurde. Die Aufbruchsstimmung des Titels ist keine. Die Stadt schleppt ihre alten Lethargien mit sich fort. Aus dem zeitlichen Abstand möchte man solch böse Diagnose durch die Wirklichkeit widerlegt wissen. In Anbetracht der verpassten Möglichkeiten beschreibt Enzensberger leider nicht nur das Gestern.