Dem Realismus gefährlich nahe

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Ulrich Weinzierl

Naturgemäß ist Martin Walser kein Antisemit. Er sagt es selbst. Die anderen seien es, die «Meinungssoldaten», die «Gesinnungspresse», FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher und alle, die ihn fälschlich des Antisemitismus bezichtigten.

Walser ist Romanschriftsteller, Herr der Figuren und Figurenreden. Die können und dürfen widerwärtig sein oder antisemitisch. Man muss bloß den Konjunktiv beherrschen, und den beherrscht Walser vorzüglich. Seine, literaturtheoretisch durchaus triftige Verteidigungsstrategie lautet: «Was in einem Roman geschieht und gesagt wird, kann nur danach beurteilt werden, wie es eingebettet ist in die Romanatmosphäre und -prosa.»

Was also geschieht im Reich-Ranicki-Roman «Tod eines Kritikers»? Michael Landolf, Autor von Texten über Kabbala und christliche Mystik, erfährt im Ausland, dass sein Münchner Kollege Hans Lach unter Mordverdacht festgenommen wurde. Das Opfer, der Starkritiker André Ehrl-König, ist verschwunden. Landolf will an die Tat Lachs nicht glauben. Gewiss, der Verdächtigte hätte ein Motiv gehabt - wie zahllose andere Dichter auch, die der furchtbare Rezensent gekränkt hat. Zudem bedrohte Lach bei der regelmäßig nach der TV-Sendung «Sprechstunde» veranstalteten Party in der Villa des Verlegers Prinz den Kritiker öffentlich mit der finsteren Ankündigung: «Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei. Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen.» Und Ich-Erzähler Landolf fährt fort: «Diese Ausdrucksweise habe unter den Gästen, die samt und sonders mit Literatur und Medien und Politik zu tun hätten, mehr als Befremden, eigentlich schon Bestürzung und Abscheu ausgelöst, schließlich sei allgemein bekannt, dass André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust.»

Landolf versucht, sich ein Bild zu verschaffen, das die Unschuld Lachs beweise. Zu dem Zweck führt er Gespräche mit Partygästen, mit Bekannten und so genannten Freunden Ehrl-Königs. Dabei stellt sich heraus: Alle haben sie ihn gehasst, gefürchtet und verachtet. Die Aussagen fügen sich wie Mosaiksteinchen zu einem indirekten Porträt, einer Karikatur. Der parodistische Zungenschlag ist verräterisch. Mit derart plumper Verfremdungstechnik in Laut und Schrift («doitsch») und Wortstellung pflegten Judenhasser, vom «Stürmer» abwärts, das «jüdelnde» Deutsch zu verhöhnen.

Und wie steht es mit der kettenrauchenden Frau Ehrl-König, von der alle nur per «Madame» sprechen? Landolf gibt Gerüchte wieder, ihr Vater «sei zuerst Privatsekretär Pétains und dann Geheimdienstchef des Vichy-Regimes gewesen». Es fällt schwer, solche Witzelei angesichts des Schicksals der realen Frau Reich-Ranicki, die mit ihrem Mann das Warschauer Ghetto und in einem Kellerversteck überlebte, nicht als unerträgliche Geschmacklosigkeit zu empfinden, zumal da sich der Vater von Teofila Reich-Ranicki im Ghetto aus Verzweiflung erhängt hat.

Ohne Zweifel wirkt das Profil Ehrl-Königs abstoßend. Die Romanfiguren schildern seine unerträgliche Eitelkeit, seine Brutalität und nicht zuletzt seine «sexuelle Delikatesse, Schwangere bis zum dritten Monat». Die sehr üble Nachrede wird übrigens Rainer Heiner Henkel in den Mund gelegt, hinter dem sich, mangelhaft verschlüsselt, Walter Jens verbirgt. Auffallend ist: Der Hass auf Ehrl-König hat häufig einen sexuellen Beigeschmack. Ein Tonbandprotokoll präsentiert eine betrunkene Schriftstellerrunde. Hans Lach ereifert sich angeekelt über das «weiße Zeug», das Ehrl-König «in den Mundwinkeln» bleibe. «Scheißschaum,» ruft ein zweiter, «das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert ja durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der doitschen Literatür aufgeilt. Der Lippengorilla, der elendige.»

Keine Angst, die Sache geht trotzdem relativ glimpflich aus. André Ehrl-König ist nicht tot, er hat sich mit einer Geliebten zu ausgedehnten Schäferstündchen zurückgezogen. Dafür stirbt der Verleger Prinz, der fatal Walsers krankem Verleger Unseld ähnelt. Als dritte Pointe serviert Walser eine bewährte Konstruktionsvolte: Michael Landolf ist in Wirklichkeit das Alter Ego von Hans Lach, das Finale mündet in den Anfang.

Ende gut, alles gut? Keineswegs. Denn es gibt, wenn man Ehrl-Königs gebrandmarktes Denkprinzip des Entweder-Oder befolgt, nur zwei mögliche Sehweisen. Nach der einen haben wir es mit einem antisemitischen Schlüsselroman zu tun, nach der anderen mit einem vom Schlüsselromancier dargestellten antisemitischen deutschen Literaturbetrieb. Die - im Roman gern verteidigte - Variante des Sowohl-als-Auch wollen wir vorsichtshalber nicht in Betracht ziehen. Am unheimlichsten wirkt freilich ein leitmotivisch wiederkehrender Satz aus Hans Lachs fiktivem Buch «Der Wunsch, Verbrecher zu sein»: «Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus.» Martin Walser ist diese hohe Kunst mit der Figur des Kritikers Ehrl-König noch nicht ganz gelungen, aber er hat sich leider sehr darum bemüht. Das ist der Kern der verhängnisvollen Affäre.