Die Lust an der Regression

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Tilman Krause

Mit Martin Walsers jüngstem Roman «Der Tod eines Kritikers» kommt mutmaßlich mehreres an ein Ende. Zuallererst die enge Beziehung zwischen diesem Autor und der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Soeben hat sie Walser, von dem sie seit Jahr und Tag das jeweils neueste Prosawerk in Fortsetzung vorabdruckt, vor aller Augen die Tür gewiesen. Ein solcher Akt ward noch nicht gesehen. Frank Schirrmacher will Walsers «Dokument des Hasses» nicht bringen, weil es einer «Exekution» Marcel Reich-Ranickis gleichkomme. Dieser, nur notdürftig verschlüsselt als Kritiker André Ehrl-König, steht, mit vielen Versatzstücken aus der Klischeekiste ausgestattet, als jiddelnder Popanz im Mittelpunkt des Buches. Damit dürfte auch das Tischtuch zwischen dem Literaturpapst und Martin Walser für immer zerschnitten sein.

Auch Walsers Verhältnis zu seinem Verlag kann kaum so bleiben, wie es ist. Es wird nämlich in «Tod eines Kritikers» auch das Personal des Hauses Suhrkamp in einer Weise bloßgestellt, die nicht nur die Abwendung Unselds von Martin Walser zur Folge haben, sondern auch dem verantwortlichen Lektor noch erhebliche Probleme bereiten könnte.

Vor allem aber muss man nur über geringe prophetische Gaben verfügen, um schon jetzt zu sagen: Walsers Renommee als große intellektuelle Figur, als moralisch-politische Instanz, die seit den Tagen der Gruppe 47 in den Diskurskämpfen der Bundesrepublik Sitz und Stimme von erheblicher Wirkungsmacht besaß, wird endgültig auf den Prüfstand gestellt werden. Nicht nur die Fraktion der politisch Korrekten, die Walser seit seiner umstrittenen Rede zur Entgegennahme des Friedenspreises von 1998 im Visier hat, nicht nur sie hat nun Anlass, den Stab über ihn zu brechen. Auch die Liberalen, Verständnisbereiten, die auf dem Standpunkt stehen, seine Meinung nicht teilen zu können, aber alles tun zu wollen, damit er sie in Freiheit äußern kann, auch diese müssen sich nun fragen, ob sie sich nicht für einen Uneinsichtigen eingesetzt haben.

Doch noch etwas anderes kommt mit jenem jüngsten Opus, das uns noch geraume Weile in Atem halten wird, zu einem End- oder doch Höhepunkt. Gemeint ist ein literarisches Verfahren, das sich allerdings bei Walser in den letzten Jahren verfestigt hat zu einer Art geistigem Prinzip. Wir wollen es nennen: die Lust an der Regression.

Lust an der Regression, will sagen das Ab- und Eintauchen in einen Kosmos kindlich-affektbetonten Ausagierens von Trieben und Wünschen, die das Erwachsenenbewusstsein den meisten Menschen versagt, dieses Abstreifen zivilisatorischer Fesseln, von Walser offenkundig als «Befreiung» erlebt und in seiner Duisburger Rede 1998 auch als Befreiung propagiert, diese Lust schwingt sich nun in die höchsten erogenen Zonen des Verbotenen hinauf, indem sie den Tötungswunsch in einer Weise ausfantasiert, die wahrlich unerhört ist. Der ausfantasierte Tötungswunsch gilt ja nicht einer erfundenen Figur, was gute Tradition in der Literatur wäre. Sie gilt einer öffentlichen Figur, die noch dazu so gezeichnet ist, dass auch in der Karikatur jeder sie erkennt, dass jeder weiß, wer gemeint ist.

Erstmals manifest wurde diese Lust an der Regression in Walsers großem Deutschland-Roman von 1991, der nicht von ungefähr den Titel «Die Verteidigung der Kindheit» trug. Alfred Dorn heißt hier der Held, dem noch ein neutraler Erzähler vorgeschaltet ist. Aber schon in der «Verteidigung der Kindheit» wird politische Geschichte, unter anderem die Bombardierung Dresdens und ihre Folgen, in der Perspektive eines Psychopathen gespiegelt, der sich weigert, erwachsen zu werden und seine ganze Lust aus der Fortschreibung seines Kindseins zieht, von dem noch die letzte, abgelegenste Spur sorgsam recherchiert und archiviert wird.

Mit dem autobiografischen Roman «Ein springender Brunnen» erteilte sich Walser 1998 vollends die Lizenz für die kindliche Regression, denn nun unternahm er das Wagnis, das nicht nur ein literarisches war, über mehrere 100 Seiten lang über Ereignisse der frühen Nazizeit aus der Sicht eines Sechsjährigen zu schreiben, nicht nur auf der Suche nach der verlorenen politischen Unschuld, sondern dieselbe zum schreiberischen Programm erhebend.

Und was war schließlich seine berühmte Frankfurter Rede, nach der ihn Ignatz Bubis zum «geistigen Brandstifter» stempelte, anderes als ein Versuch, das infantile Muster vom Überdruss an den Normen und Diskursgeboten der Zivilgesellschaft in Sachen Holocaust in den öffentlichen Raum zu tragen und sich die Erlaubnis zu der kindlichen Geste des «Wegschauens» zu erteilen, «wenn es schlimm wird», wenn nämlich «die Dauerpräsentation unserer Schande» droht?Die Gedanken sind frei, wohl wahr, und die Gedanken eines Schriftstellers sind es doppelt. Aber wenn sie vornehmlich dem einen dienen: das Regressive zur Sprache zu bringen, dann droht der Rückschritt.