Matthias Landolf, Freund und Nachbar des Schriftstellers Hans Lach erzählt: «Obwohl es bei mir, sobald ich im Ausland bin, zu den Erholungsqualitäten gehört, nur die jeweils ausländischen Zeitungen zu lesen, besorgte ich mir sofort die Frankfurter Allgemeine. Da las ich nun, Hans Lachs neuestes Buch Mädchen ohne Zehennägel sei von André Ehrl-König in seiner berühmten und beliebten Fernseh-Show SPRECHSTUNDE unsanft behandelt worden. Der Autor habe den Kritiker, als der, wie es üblich sei, nach seiner Fernseh-Show in der Bogenhausener Villa des Ehrl-König-Verlegers Ludwig Pilgrim erschien, grob angepöbelt. (. . . )
Hans Lach habe offenbar sofort gegen André Ehrl-König tätlich werden wollen. Als ihn zwei Butler hinausbeförderten, habe er ausgerufen: Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei. Herr Ehrl-König möge sich vorsehen. Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen. Diese Ausdrucksweise habe unter den Gästen, die samt und sonders mit Literatur und Medien und Politik zu tun hätten, mehr als Befremden, eigentlich schon Bestürzung und Abscheu ausgelöst, schließlich sei allgemein bekannt, daß André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust. Auf dem Kühler von Ehrl-Königs Jaguar, der am nächsten Morgen immer noch vor der Villa des Verlegers stand, sei der berühmte gelbe Cashmere-Pullover, den der Kritiker in seiner Fernsehshow immer um seine Schultern geschlungen trage, gefunden worden. Von André Ehrl-König fehle jede Spur. (. . .) Hans Lach sei schon am Tag danach unter Verdacht gestellt und, da er kein Alibi nachweisen konnte und nicht bereit war, auch nur eine einzige Frage zu beantworten, verhaftet worden.»
Matthias Landolf lässt sich von Professor Silberfuchs die letzte Ehrl-König-Sendung referieren: «Er habe sich nicht gemeint gefühlt, sagte Professor Silbenfuchs, aber daß Ehrl-Königs Eröffnungen nachher jedesmal Zitatgut werden, sei nichts als wahr. Aber doch eher mündlich als schriftlich. Mündlich eben, weil Ehrl-König so leicht zu imitieren ist. (. . . .)
Zuerst einmal müsse festgestellt werden, daß Hans Lach dieses Buch vorsätzlich gegen ihn, Ehrl-König, geschrieben habe. Seit er, Ehrl-König, hier SPRECHSTUNDE halte, also immerhin seit siebzehn Jahren, habe er nicht aufgehört zu sagen, daß ein Roman, der mehr als vierhundert Seiten lang sei, ihm, dem Leser André Ehrl-König, zu beweisen habe, warum er mehr als vierhundert Seiten lang sein müsse. Hans Lach denke nicht daran, diesen Beweis zu liefern. Zweitens: Die weibliche Heldin dieses Romans sei eine beschränkte Person, deren Beschränktheit vom Roman selbst sozusagen auf jeder zweiten Seite zugegeben werde. Er, Ehrl-König, predige in einer ihm schon selbst auf die Nerven gehenden Hartnäckigkeit, daß er beschränkte Weibspersonen weder im Leben noch in Romanen ertrage. Was tut Feroind Lach: schiebt eine unbelehrbar bescheränkte Weibsperson über vierhundertneunzehn Seiten durch einen Roman, der dann auch noch Mädchen ohne Zehennägel heißt.
Ehrl-König könne ja aus irgend einer Mundunpäßlichkeit hinter einem sch kein r aussprechen, hinter einem Konsonanten schon gar nicht. Das gehöre zu den vielen Sprecheigentümlichkeiten, die es so leicht machten, ihn zu imitieren. Er, Silbenfuchs sei sicher, daß Ehrl-König vor allem wegen seiner leichten Imitierbarkeit so populär und deshalb so einflußreich sei.
Aber der Keritiker hat, wenn er Keritiker ist, weder Feroind noch Feind. Seine Sache ist, solange er urteilt, die doitsche Literatür. Wenn er, Ehrl-König, ein paar Tage hintereinander doitsche Gegenwartsliteratür lesen müsse, beneide er die Loite von der Müllabfuhr. Wie elegant schwingen die die Kübel voll des übelen Zoigs hinauf zum Schelucker, schwupps, und weg ist das Zoig, der Kübel wieder leicht und leer, aber wie lange habe er, der Keritiker, zu würgen und zu gacksen, bis er so einen doitschen Gegenwartsroman dort habe, wo der hingehört: in den Müll. Daß Pelatz ist für das Bessere. Das Gute. Für Philip Roth, zum Beispiel. Jetzt habe Ehrl-König einen Augenblick lang geschwiegen. (. . . .) Martha habe ihn gestreichelt, tröstlich. Ja, Martha, habe er gesagt, er beneide sich nicht um seinen Job. Er fühle sich nun einmal verantwortlich für die Gegenwartsliteratür. Vor allem eben für die doitsche. Und schwieg. Das Publikum schwieg. Schwieg heftig, schwieg pathetisch, schwieg solidarisch, schwieg mit ihm. Litt mit ihm. Unter dieser doitschen Gegenwartsliteratür.