Ich bin nicht gerade ein Silvester-Muffel, aber ich lege am Jahresende gerne Schweigeminuten ein. Den einzigen Krach, den ich an diesem Abend mit Freuden akzeptiere, ist der Korkenknall aus meiner Champagnerflasche. Ich leere sie genussvoll ohne jeden Anflug von Reue über die Stunden hin ganz allein. Ich sitze herum. Ich lese herum. Ich denke herum. Ich trinke herum. Prost Neujahr!
Früher nahm ich gelegentlich Einladungen an oder lud Gäste zu mir nach Hause. Alles schön und gut. Aber das Alleinsein nach dem Jahresgetümmel der Unternehmungen, Veranstaltungen, Unterhaltungen wurde mir mehr und mehr zum Labsal. Das Jahr gehört der betriebsamen Aushäusigkeit. Silvester aber ist in meinen Augen das Fest der Eremiten. Der berühmte Hieronymus im Gehäus hat es wahrscheinlich erfunden. Er sei dafür gelobt und gepriesen.
Früher habe ich Silvester gern in Monte Carlo verlebt. Das schien mir auf seine einzigartige Weise der Gegenwart und der Realität entrückt, attraktiv ausgeflippt. Man durfte sich geradezu ausgewandert fühlen. Auch in den Sommermonaten war ich immer erneut gern zu Gast bei den Konzerten im Hof des monegassischen Fürstenpalastes gewesen. Die entzückende Fürstin hatte in ihrer Loge gesessen und einträchtig Leonard Bernstein und Arthur Rubinstein zugehört, den Klassikern des musikalischen Frohsinns. Sie musizierten zusammen, als zündeten sie Feuerwerke aus Tönen, und pausenlos noch dazu. Wo keine Pause ist, da ist auch kein Harndrang, hatte die kluge Fürstin klar erkannt. Sie weigerte sich entschieden, für das Publikum einen Toilettenwagen vor ihrem Palasttor aufstellen zu lassen.
Was mich immer am meisten entzückte, waren die kurzen Hubschrauberflüge von Nizza nach Monte Carlo hinüber, die kurvenreiche Küste entlang. Einmal jammerte mir ein Mitflieger vor, aus einer schlecht verschlossenen Ladeluke seien all seine Koffer ins Mittelmeer gestürzt, ausgerechnet an jener Stelle, wo es am tiefsten ist. Gott sei Dank war das Gepäck nicht mit Schweröl beladen.
Einmal hatte sich vor dem Portal des formidablen Hôtel de Paris unter das für immer und ewig dort harrende Rolls-Royce-Rudel ein besonders prächtiger Wagen gemischt. Als er sich bemerkenswert stumm in Gang setzte, seine Motorengeräusche waren offenbar geradezu vor Ehrfurcht erstickt, liefen rechts wie links armierte Schutztruppen im Laufschritt an seiner Seite. War der Papst zu Besuch beim Fürsten? Oder etwa Fidel Castro? Nichts dergleichen: Michael Jackson begab sich zum Abendessen. Ich gestehe: Auch ohne ihn habe ich in Monte Carlo immer höchst anständig gegessen.
Zuhaus habe ich inzwischen dem traditionell blauen Silvesterkarpfen entsagt, den ich früher der Freundesfamilie zum Spaß zu Mittag kochte. Ich bin zum italienischen Zampone mit Linsen übergewechselt, dem traditionellen südländischen Silvestergericht: dem gefüllten Schweinsfuß, an dessen Beilage man, Linse für Linse, nachrechnen kann, wie die Kasse im kommenden Jahr klingeln wird. Was das betrifft: verlässlicher als die Linsen sind inzwischen die Börsenberichte auch nicht. Das Fernsehen hat sie geradezu zu einer Talkshow der Katastrophen aufgewertet.
Eine peinliche Mini-Katastrophe überraschte mich aber an Silvester auch einmal in Monte Carlo. Ich war durch Zufall auf den reizend weltläufigen Horst Buchholz gestoßen, der mich, den Berliner aus alten Tagen, als Anhängsel mit in den höchst favorisierten Night Club Monacos mitnahm. Er hieß, wenn ich es recht erinnere, «Chez Régine». Ich pflanzte mich an ein Tischchen. Man plauderte hinüber und herüber. Man hob die Gläser im Takt. Man leerte sie gründlich.
Plötzlich fand ich mich, den leidenschaftlichen Nichttänzer, eine wohlproportionierte, mittelreife amerikanische Dame im Arm, auf der kleinen Tanzfläche wieder. Wir wiegten uns aneinander geschmiegt im vorgeschrieben romantischen Takt: eine angenehme Silvester-Idylle. Plötzlich flüsterte die mir vollkommen unbekannte, schmuckklirrende Lady unüberhörbar ins Ohr: «Make me a child!».
Was? Hier? Jetzt? Auf der Tanzfläche? Beim dazu herzlich ungeeigneten langsamen Walzer? Vor Überraschung trat ich meiner Partnerin unbeabsichtigt nachhaltig auf den Fuß. Sie kam prompt wieder zu sich. Wir tanzten auf Nimmerwiedersehen weiter. Es gibt im Leben (und an Silvester natürlich ganz besonders) immer wieder Augenblicke, die unvergesslicherweise anders sind als die andern, jahrein und jahraus.