Rolf Schneiders Berliner Anthologie

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Gotthold Ephraim Lessing Der Eintritt des Jahres 1753 in Berlin

Wie zaudernd ungern sich die Jahre trennen mochten,

Die eine Götterhand

Durch Kränze mancher Art, mit Pracht und Scherz durchflochten,

Uns in einander wand!

So träg, als hübe sich ein Adler in die Lüfte,

Den man vom Raube scheucht:

Noch schwebt er drüber her, und witternd fette Düfte,

Entflieht er minder leicht.

Welch langsam Phänomen durchstreicht des Äthers Wogen,

Dort wo Saturn gebeut?

Ist es? Es ist's, das Jahr, das reuend uns entflogen,

Es fliegt zur Ewigkeit.

Das reuend uns entflog, dir Friedrich zuzusehen,

Kein Säkulum zu sein;

Mit deinem ganzen Ruhm belastet fort zu gehen,

Und sich der Last zu freun.

Noch oft soll manches Jahr so traurig von uns fliegen,

Noch oft, zu unserm Glück.

Vom Himmel bist du, Herr, zu uns herabgestiegen;

Kehr spät! kehr spät zurück!

Lass dich noch lange, Herr, den Namen Vater reizen

Und den: menschlicher Held!

Dort wird der Himmel zwar nach seiner Zierde geizen;

Doch hier braucht dich die Welt.

Noch seh' ich mich für dich mit raschen Richteraugen

Nach einem Dichter um.

Dort einer! hier und da! Sie taugen viel, und taugen

Doch nichts für deinen Ruhm.

Ist er nicht etwa schon, und singt noch wenig Ohren,

Weil er die Kräfte wiegt:

So werd' er dieses Jahr, der seltne Geist, geboren,

Der diesen Kranz erfliegt.

Wenn er der Mutter dann sich leicht vom Herzen windet,

O Muse, lach ihn an!

Damit er Feur und Witz dem Edelmut verbindet,

Poet und Biedermann.

Hört! oder täuschen mich beliebte Rasereien?

Nein, nein, ich hör' ihn schon.

Der Heere ziehend Lärm sind seine Melodeien,

Und Friedrich jeder Ton!

Der Ruhm des deutschen Schriftstellers Gotthold Ephraim Lessing (1729 - 1781) ist nicht vorrangig der des Lyrikers. Zwar gibt es von ihm ein paar hundert Gedichte, doch die weitaus meisten sind Tierfabeln. Unter den übrigen finden sich unter anderem Preisgedichte für bedeutende Personen und Anlässe, zu denen die Strophen zählen, die den Beginn des Jahres 1753 bedenken.

Sie handeln weniger von der Stadt als von der Zeit und ihrem Fluge sowie, vor allem, von dem regierenden Souverän. Der devote Ton, den spätere Dichter Fridericus Rex gegenüber anstimmen, findet nicht statt. Die letzten beiden Strophen formulieren es unumwunden: Der König wäre besser «Poet und Biedermann», doch hat er sich wohl wieder für den Schlachtenlärm entschieden. Des Dichters Verhältnis zu diesem König war hochkompliziert. Seine Versuche, dem König die Förderung der deutschen Kultur einzureden, schlugen fehl. Er rächte sich, indem er seinen Major von Tellheim erfand, einen ehrpusseligen friderizianischen Offizier, der durch die gewitzte Sächsin Minna von Barnhelm zu Vernunft und Einsicht gebracht wird.