Morgen jährt sich zum 100. Mal der Tag, an dem Harald Kreutzberg geboren wurde. Man hätte ihn einen Einzelgänger nennen können, wäre er nicht ein Einzeltänzer gewesen. Kreutzberg füllte Jahrzehnte lang die Säle mit seiner sonderbar verwandlungsfreudigen Kunst, die sich ungeheure Popularität ertanzte und zwar weit über die deutschen Grenzen hinaus. Man hat, durchaus werbewirksam, Kreutzberg einen neuen Nijinsky genannt.
Das war er natürlich nicht. Er war schließlich keiner Ballettschule entsprungen, sondern dem Dresdner Studio von Mary Wigman, der Aufrührerin, der Anführerin im modernen Tanz. Sie hatte ein scharfes Auge für die Talente ihres neuen Freizeit-Eleven, der eher zum Modezeichnen tendierte. Sie legte sich der Kritzelkarriere des jungen Mannes entschieden quer. Sie bildete ihn auf ihre professionelle Art zum Berufstänzer aus. Sie tat recht: Sie setzte mit Kreutzberg eine ganz und gar unalltägliche Begabung frei. Sie stach alsbald nachhaltig Max Reinhardt ins Auge.
Er verpflichtete Kreutzberg, den Österreicher, zu den Festspielen nach Salzburg. Er hieß ihn den Zeremonienmeister in Gozzis «Turandot» spielen. Soviel Ehre hätte jungen Tänzern wohl die Sprache verschlagen. Kreutzberg nicht: Er begann auf der Salzburger Festspielbühne alsbald Shakespeare zu sprechen; wurde Max Reinhardts Puck im «Sommernachtstraum». Später übernahm er in «Jedermann» die Rolle des Todes, die vor und nach ihm Werner Krauss und Ernst Deutsch verkörpert hatten.
Früh schon hatte sich Kreutzberg ein unverwechselbares Kennzeichen zugelegt. Für eine Aufführung des Tanzwerks «Don Morte» hatte er sich 1926 über Nacht den Kopf kahl scheren lassen. Diesen Kahlkopf behielt er ein Leben lang bei. Er prägte sich ein, nicht anders als später die attraktive Glatze Yul Brynners, in der The Oxford Companion on Film mit bewunderndem Abscheu eine «faszinierend perverse Handelsmarke» erkannte. Sie machte vorab Kreutzberg unverwechselbar. Freilich begann er alsbald, sie auf die vielfältigste und stets überraschendste Weise zu kaschieren. Kronen, Hüte, Kopftücher, wahre Aufbauten der Phantasie wechselten auf seinem Haupt einander ab. Voraussetzung: sie durften nicht mucksen und rutschen.
Kreutzberg war 34, als man ihn für den gewaltigsten Auftritt seines Lebens verpflichtete. Er tanzte auf grünem Rasen des Olympiastadions 1936 der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele voran und zwar in tänzerisch bester Gesellschaft von Gret Palucca und Mary Wigman. Harald Kreutzberg tanzte kämpferisch jünglingshaft in den Tod. Nicht erst bei den Nazis bäumten sich die jungmännlichen Körper im Waffentanz auf.
Doch Kreutzberg spielte sich in der Folge nicht weiter heroisch auf. Im Gegenteil: An der Seite des Kollegen Werner Krauss spielte er im «Paracelsus»-Film von G. W. Papst 1943, spindeldürr, den gespenstisch leichtfüßigen, doch pestkranken Gaukler Fliegenbein. Kreutzberg war fraglos ein ausgezeichneter Darsteller - allerdings zumal seiner selbst. Er war ein Theatertier. Er war ein Kulissenreißer, der dazu nicht einmal Kulissen brauchte. Natürlich gab er sich auch tänzerisch tiefgründig, kreierte beinahe improvisatorisch «irre Gestalten». Wahrhaft mitreißend wurde er durch seinen Witz, dieser Mangelware im deutschen Tanz.
Kreutzberg errichtete über ihm ein ganzes Imperium der Tanzkunst, über das er unangefochten regierte: bald als «Till Eulenspiegel», bald als schmachtender Tangotänzer um Mitternacht. Kreutzberg verstand, sein Publikum zu unterhalten - und dies zu einer Zeit, da die alte Welt ringsum zusammenkrachte. Kreutzberg tanzte auf der Bühne beinahe im Alleingang gegen Tod und Sterben an. Er tanzte sozusagen «Das Leben geht weiter», und das tat es glücklicherweise auch. Für ihn jedenfalls bis zum 25. April 1968. An diesem Tage ist Kreutzberg an den Folgen eines Schlaganfalls in Bern gestorben.