Erschüttert und unsicheren Schrittes betritt ein älterer Herr das Zimmer. Die Aktentasche hat er so fest an die linke Brustseite gedrückt, als müsste er eine offene Wunde direkt über seinem Herzen verdecken. Nach einem Moment der Besinnung nimmt er den Arm mit der Tasche herunter und entblößt einen auf den Mantel genähten, gelben Stern mit der Aufschrift «Jude». George Bartenieff spielt Victor Klemperer, den Romanistik-Professor, der leidlich geschützt durch die Ehe mit einer «Arierin», die Nazizeit in Dresden überlebte und dessen Tagebücher - posthum 1995 veröffentlicht - zu einem Sensationserfolg wurden.
Das «Zeugnis», das Klemperer mit diesem riskanten Unternehmen ablegen wollte (die Entdeckung des Manuskriptes hätte seinen Tod bedeutet), wurde auch in New York gehört: Dort lebt der in Berlin 1933 geborene Bartenieff, der 1939 Deutschland verließ. Als Schauspieler arbeitete er mit dem «Living Theatre» und dem «Bread and Puppet Theatre», gründete 1970 sein eigenes «Theater for the New City» und wurde mehrfach preisgekrönt - zuletzt 2001 für seine Bühnenadaption der Klemperer-Tagebücher «I Will Bear Witness», die nun in Berlin bei den Friends of Italian Opera zu sehen ist. Eröffnet wurde das Gastspiel mit dem Abend über die Jahre 1942 - 45.
Die Geste mit Aktentasche ist typisch für das von Bartenieffs Frau Karen Malpede inszenierte Solo. Es sind solche Kleinigkeiten, mit denen die größten Dramen im immer begrenzter und bedrohter werdenden Leben der Klemperers sich darstellen: die lange gefürchtete Hausdurchsuchung durch die Gestapo - Tagebuchblätter, die mit einer schneidenden Handbewegung vom Tisch gefegt werden.
Bartenieff bringt die unterschiedlichen Seelen in Klemperers Brust ebenso zum Klingen wie die Stimmen der geliebten Frau Eva und des Personals der Tagebücher: Mitleidende, Terrorknechte, aber auch Helfer und Anti-Nazis, deren Zahl und Bedeutung der Patriot voller Hoffnung vergrößert.
Der Verlockung, ein dröhnendes Virtuosenstück aus dieser gigantischen Aufgabe zu machen, sind Bartenieff und Malpede nicht erlegen. Selbst der Untergang der Stadt Dresden im Feuersturm vom Februar 1945, der auch die Klemperers beinahe vernichtet hätte, wird relativ verhalten gespielt - und umso eindringlicher. Ein kurzer Satz über Eva, die beinahe eine Zigarette an einer glühenden Leiche angezündet hätte, lässt das Grauen eindringlicher werden als jeder augenrollende Amoklauf es gekonnt hätte.
Da Bartenieffs Englisch ausgesprochen gut verständlich ist, sollte dem Erfolg der Gastspiels weit über die Kreise der anglophilen und anglophonen Stammbesucher der «Friends» nichts im Wege stehen.
Friends of Italian Opera, Fidicinstr. 40, Kreuzberg, Kartentel.: 691 12 11. Bis 22. Dezember Mi - So, Zusatzvorstellungen: 3., 10. 12, jeweils 20 Uhr.