Die Kraft der Natürlichkeit

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Klaus Geitel

Wäre Jiri Kout etwas geistesgegenwärtiger gewesen und hätte das Orchester im Zwischenakt der «Jenufa»-Premiere aufstehen lassen und sich selbst dem Jubel des Hauses gestellt, man hätte zweifellos bis zum 3. Akt durchapplaudiert: ein selten gewordenes Erlebnis.

Janaceks Oper, vielzylindrisch von Audi vom Glyndebourne Festival in die Bismarckstrasse transportiert, erweist sich in der Deutschen Oper ohne jeden Anflug von opernmodernistischer Dummdreistigkeit als Produktion eines Teams der Kenner und Könner. An seiner Spitze Nikolaus Lehnhoff, der Regisseur, und Anja Silja in der Rolle der Küsterin, die aus irregeleiteter Schamhaftigkeit zur Kindsmörderin wird.

«Jenufa», etwa zeitgleich mit den beiden Einaktern Zemlinskys entstanden, die seit kurzem in der Komischen Oper zu sehen sind, hat nichts von ihrem Feuer, ihrem dramatischen Zugriff, ihrer musikalischen Allmacht eingebüßt, und Jiri Kout am Pult entfaltet ihre ganze hochdramatische Finesse: die einzigartige Verschraubung von Bodenständigkeit und Raffinement.

Janacek spielt die Musik seiner Heimat und macht aus ihr Weltmusik: die einer Seelenwelt von unerhörter Eindringlichkeit und Konsequenz. Es ist ihre dramatische Vehemenz, ihr Mitgefühl mit den Lebens- und Liebesqualen der Menschen, die mitreißt und noch immer betroffen macht, wozu auch die projizierte, eindringliche deutsche Übersetzung des tschechischen Originals beiträgt. Die Aufführung fängt die Zuhörer auf Anhieb ein in ihren unwiderstehlichen musikdramatischen Sog.

Tobias Hoheisel hat die Bühne gebaut: vor allem zwei wundervoll ausgeglichene Innenräume der Lebensstabilität, die allmählich zusammenbricht und am Ende in Trümmern liegt, ohne indessen daran zu Grunde zu gehen. Neben allem Leid steht die Hoffnung gleichberechtigt am Ende.

Nikolaus Lehnhoff hat das Geschehen ohne Abschweife durchinszeniert. Die Aufführung besitzt die Kraft der Natürlichkeit, ohne sich in Naturalismus zu verlieren. Es ist eine Aufführung der großen Gesten, voller Intensität und Aufrichtigkeit, und keiner weiß sie verlässlicher abzuschnellen als Anja Silja, die nach vierzig Jahren der Abwesenheit an die Deutsche Oper zurückgekehrt ist. Man sieht und hört ihr mit Bewunderung zu.

Sie ist rabiat - und so singt sie auch. Sie ist der großen Ausbrüche ebenso mächtig wie der stimmlichen Verstocktheit, der Hochherrschaftlichkeit, der Verzweiflungen und des puritanischen Wahnwitzes. Wo sie steht, da singt, kniet, taumelt, krampft ein Seelenvulkan. Silja ist rundum hassenswert, aber sie strudelt sich, singend, Verständnis, Mitleid, Erbarmen herbei.

Ihre Ziehtochter Jenufa ist (mit nicht ganz ausgeglichenen stimmlichen Mitteln) anrührend Amanda Roocroft: eine junge Frau am Rande des Abgrunds, in den sie prompt hineinstürzt. Als ihr Retter erweist sich am Ende der wahrhaft Liebende: Stefan Margita, ein durch und durch sympathischer junger Tenor, der nicht einzig Jenufa zu überzeugen vermag, sondern, was weit schwieriger ist, auch das Publikum. Es zeichnete Margita deutlich mit herzlichem Zuspruch aus.

Sein Nebenbuhler, stimmlich nicht weniger charaktervoll, singt gleichfalls Tenor. Es ist Pär Lindskog, der Dorf-Hallodri, der unseligerweise Jenufa ins Unglück reißt. Aber auch alle anderen Mitwirkenden, Sarah Fox spitzbübisch voran, zeichnen ihre Rollen mit Hinterlist und Bedacht, ohne sich nachdrücklich an die Rampe zu spielen. Lehnhoffs Regiehand kennt nachdrücklich den Bedacht.

Jiri Kout lässt seinem Orchester dagegen volle Fahrt. Der Dirigent breitet lustvoll und breitbrüstig Janaceks farbensprühende Partitur aus. Er weiß um ihre wechselnden Stimmungen, ihr dramatisches Sich-Aufbäumen, ihre heimliche Glut, ihren lyrischen Glanz, ihre fest im Heimatboden verankerte Pausbäckigkeit. Er bewahrt der Tragödie ihren Volksstückcharakter, dem Volksstück seine volle dramatische Fallhöhe.

Eine derart durchgearbeitete Aufführung aus einem einzigen Guss sah und hörte man in Berlin schon lange nicht mehr. Vielleicht wäre es ratsam, Lehnhoff in Zukunft enger als bisher an die Hauptstadt zu binden. Er steht inzwischen seit langem auf der Höhe der Kunst, denn dieses Wunderwerk einer Opern-Aufführung entstand immerhin schon vor dreizehn Jahren. Wer behauptet da noch, die Dreizehn sei keine Glückszahl?

Deutsche Oper Berlin, Bismarckstr. 35, Charlottenburg. Nächste Aufführungen: heute, 30.11.; 7.12. Karten Tel.: 343 84 01