Rot dominiert an diesem Abend tatsächlich den Roten Salon der Volksbühne. Drohend-revolutionär funkeln die Augen einer sowjetischen Bilderbuch-Proletarierin, «Autoren! Autoren!» prangt in roten Lettern, kyrillisch und lateinisch, über ihrem roten Kopftuch. Während Frank Castorf nebenan tote russische Romanciers wiederbelebt, hat die Neue Gesellschaft für Literatur fünf lebende eingeladen. Michail Jelisarow, Julia Kissina, Marussia Klimova, Ilya Kotschergin und Roman Sentschin sind zwar weit weniger bekannt, aber im rauchgeschwängerten Rotlicht herrscht dichtes Gedrängel.
Marie Pohl, Jochen Schmidt, Julia Schoch und Markus Orths lesen die Übersetzungen der Texte, die sie im Rahmen einer Übersetzer-Werkstatt erarbeitet haben. Larissa Boehning stellt Jelisarow vor, dessen Roman «Die Nägel» im Frühjahr auf Deutsch erscheint. Die skurrile Geschichte «Rotfilm» erzählt von zwei Schulfreunden, die unter dem finsteren Blick des Breschnew-Konterfeis an der Klassenzimmerwand Rachepläne gegen eine verhasste Mitschülerin schmieden: die «Unmenschin». Der trockene Witz und ein zumeist tödliches Ende zwischen Pathos und Ironie kehren an diesem Abend immer wieder. Erlebt haben die Petersburger und Moskauer Schriftsteller, die alle in einem sich wandelnden Russland großgeworden sind, offenbar einiges. Ihre im Kontrast zu den deutschen Kollegen ungleich tieferen Gesichtsfurchen wirkten da wie Ausrufezeichen.
Eine der stärksten Erzählungen liefert Ilya Kotschergin mit «Rachat», ein geliebtes Pferd muss, aufgrund einer Unachtsamkeit, in sibirischer Einöde sterben. Während Marussia Klimova in einem mit unzähligen Pailletten besetzten Mantel zum Abschluss zwei kurze «Seemannsgeschichten» liest, kann sich der Teil des Publikums, der des Russischen mächtig ist, vor Lachen kaum halten. Ein Witz, der auf dem Weg ins Deutsche offenbar weitgehend verloren ging. Dennoch glänzten die meisten Geschichten des Abends beinahe so sehr wie Klimovas Mantel. küv