Delbonos Stille als Überlebenshilfe

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Klaus Geitel

Dieser Pippo Delbono aus Italien, mit seiner glücklich zusammengewürfelten Truppe zu Gast im Haus der Berliner Festspiele, ist ein Wundermann des Theaterspiels. «Il silencio» (Die Stille) nennt er das Stück, das sich offenbar die Bühne eigenhändig zusammendichtet: ein Konglomerat aus Poesie und Musik, Clownerie, Versunkenheit, Trauer und Spaß, Reigentänzen, Grotesken, Umzügen, Parodien, Paraden, Verzweiflungen, Singsang. So geht es anderthalb Stunden lang.

«Il silencio», das übrigens zeitweilig mit Ohren betäubendem Donnergepolter daherkracht, singt überdies mit der harschen Menschenstimme von Danio Manfredini zu Gitarrenklängen Canzonen. Das Leben hat nun einmal weiterzugehen, selbst nach mörderischen Erdstößen wie jenen, die 1968 im Westen Siziliens einen ganzen Landstrich verwüsteten. «Il silencio», das im Juli 2000 beim sizilianischen Gibellina Festival uraufgeführte Stück, zieht das Leichentuch drüber und gleichzeitig immer wieder von den Erschütterungen und Verschüttungen der Seele fort. Mit dem Spaten der Poesie legt Pippo Delbono Überlebensleid und Überlebenslust frei.

Das Geschehen tropft allmählich auf die mit Sand zugeschüttete Bühne. Grabhügel werden zusammengeharkt, Schneisen gelegt, Prozessionen kommen in Gang. Sprache scheint ausgestorben. Oder hat sich Taubheit über die schwer heimgesuchte Region gelegt? Delbono ruft als Zeugen des Elends Ludwig van Beethoven auf. Er lässt das erschütternde «Heiligenstädter Testament» zitieren, in dem Beethoven von dem ihm angeborenen «zärtlichen Gefühl des Wohlwollens» spricht und gleichzeitig vom Schiffbruch des Lebens auf den Klippen der Taubheit. Der Hörsinn verschüttet - wie auf Sizilien mit einem Donnerschlag die ganze Provinz.

Man schweigt sich durch, zu Tode geschockt, und doch gleichzeitig ins Leben zurück. Statt auf Tränen setzt man auf Poesie, auf den wiedererwachenden Frohsinn ebenso wie auf die vertrauten Umtriebe der Mafia. Es gibt immer etwas, woran man sich klammern kann: den Espresso am einsam karierten Tisch, die Herausforderungen durch Sex, Sport und Blasmusik. Delbono führt sein hoch originelles Ensemble mit sicherer Hand durch ein Staunen erregendes Arsenal von Überlebenshilfen.

Alles durchaus menschlich, skurril, hochgeschossen oder kleinwüchsig knittrig. Doch alles gleichzeitig ganz ernsthaft, anrührend und hingebungsvoll. Ein Menschheitsarsenal wird auf die nackte, staubbedeckte Bühne geschüttet. Am Ende leuchten nur noch in der Ferne die Totenkerzen. Das Publikum sitzt da wie erschossen, bis es sich langsam zur Erkenntnis zusammenrappelt, eines denkbar ungewöhnlichen, geradezu einzigartigen Theatererlebnisses teilhaftig geworden zu sein.

Die Akteure

Programme, Kritiken und Fotos der Compagnia über www.pippodelbono.it