Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war nach dem Zweiten Weltkrieg im kommunistischen Regime in Polen eine weit wichtigere Figur als bislang bekannt. Das geht aus der Personalakte des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit (MBP) hervor, dessen Mitarbeiter Reich-Ranicki Ende 1944 mit 24 Jahren wurde und mit kurzer Unterbrechung bis zum 28. Januar 1950 war. Sie liegt unter der Nummer IPN 0193/896 im polnischen «Institut des Nationalen Gedenkens (IPN)», der polnischen Entsprechung der Gauck-Behörde, in Warschau. «Die Welt» erhielt als erste Zeitung Einsicht in das bisher verschlossene Dossier. Aus ihm geht hervor, dass Reich-Ranicki die geheimpolizeiliche Arbeit für das neue Regime geradezu mit Leidenschaft betrieben haben muss.
In mehreren «Charakteristika» loben verschiedene Vorgesetzte über mehrere Jahre hinweg Intelligenz und Eifer: Er sei «gut in der operativen Arbeit, vernarrt in den Geheimdienst», er «kennt die Psyche des Agenten», auch sei er der Volksrepublik «ergeben, politisch zuverlässig, bewährt». Seine Karriere gebe «Anlass zu großen Hoffnungen». Bescheinigt werden ihm auch «große gesellschaftliche Kontakte in Parteikreisen».
Allerdings werden in manchen Bewertungen die Eigenschaften Arroganz und Opportunismus sowie «intelligenzlerhafte Manieren» getadelt. In der Mehrheit sind die Bewertungen eindeutig positiv. Den gelegentlich fast euphorischen Ton bezeichnen polnische Historiker als ungewöhnlich: Gerade in der Staatssicherheit hätten Vorgesetzte stets äußerst zurückhaltend formuliert, um sich gegen künftige Konkurrenten, aber auch gegen mögliche «Fehlentwicklungen» des Beurteilten abzusichern.
Die jetzt freigegebene Akte umfasst 109 Blatt, zum Teil beidseitig beschrieben, darunter Reich-Ranickis Aufnahmegesuch vom 25. 10. 1944, Verpflichtungs- und Schweigeerklärungen, handschriftlich verfasste Lebensläufe, detaillierte Personalfragebögen, Anträge der Vorgesetzten auf Beförderung, drei Fotos und einige private Briefe. Im Dienst des Ministeriums brachte es Reich-Ranicki schnell zum Rang eines Hauptmanns. Er erhielt drei Auszeichnungen, eine davon, das Silberne Verdienstkreuz, mit der summarischen Begründung «für herausragende Verdienste, Tapferkeit im Kampf mit Diversionsbanden und musterhaften Dienst». Ein internes MBP-Personalhandbuch, das nach der Wende in Polen nachgedruckt wurde, nennt ihn unter den wichtigsten 1100 Mitarbeitern.
Das Dossier ist eine Personalakte, die die Tätigkeit und Eignung des Mitarbeiters Reich-Ranicki bilanziert. Einzelne «operative Vorgänge» enthält sie daher ebenso wenig wie den Decknamen «Albin», unter dem er nach eigenen Angaben geführt wurde, den er aber, wie Reich-Ranicki sagt, nie benutzt hat. Über die frühe Zeit, in der er in der «Kriegszensur» (Postzensur) tätig war, die dem MBP unterstand, erfahren wir wenig, ebenso über seinen Einsatz im oberschlesischen Kattowitz. Laut MBP-Handbuch war er dort vom 5.2. bis 25.3.1945 Leiter einer «Operationsgruppe», die die Strukturen des Bezirksamts der Staatssicherheit aufbauen sollte.
Danach war er, wiederum bei der Zensur, in Warschau tätig.
Nach Auskunft eines handschriftlichen Lebenslaufs leitete Reich-Ranicki dort zeitweise kommissarisch die Abteilung für die Zensur der gesamten Auslandspost. Offenbar aufgrund eines Zerwürfnisses mit der Chefin der Zensurbehörde, Wierblowska, bat er schriftlich um Versetzung und wurde im Auftrag des Amtes, das die Rückführung von geraubten Industrie- und Kulturgütern aus Deutschland nach Polen betrieb, an die polnische Militärmission in Berlin entsandt (Januar bis April 1946). Nach seiner Rückkehr machte Reich-Ranicki weiter im MBP Karriere. In der Abteilung Nachrichtendienst wurde er binnen weniger Monate dreimal befördert und war schließlich Leiter des Großbritannien-Referats und zugleich kommissarisch stellvertretender Chef der II. («operativen») Abteilung, die neben Großbritannien für Deutschland, Nordamerika und die Hälfte der übrigen Welt zuständig war.
Anfang 1948 wurde er unter dem polnisch klingenden Namen Ranicki in doppelter Mission nach London geschickt, wo er bis November 1949 blieb. Er war ausgeliehen an das polnische Außenministerium und in London offiziell Vize-Konsul, dann Konsul und zeitweise Leiter des Generalkonsulats, inoffiziell Agentenführer. London war damals aus Warschauer Sicht der brisanteste diplomatische Posten: Die Emigrantenszene um die nichtkommunistische polnische Exilregierung sollte bespitzelt und infiltriert werden, zugleich sollten möglichst viele Emigranten zur Rückkehr nach Polen bewegt werden.
Die nichtkonsularischen Aufgaben haben in den Akten Spuren hinterlassen: In einem seiner Briefe an die Zentrale berichtet Konsul Ranicki am 12. August 1948 von «Elementen» unter den Emigranten, die einer «verbrecherischen politischen Tätigkeit» nachgingen. Einer der dem Konsul persönlich zugewiesenen Aufgabenbereiche waren nach einem anderen Dokument die Angelegenheiten der Exilpolen. Unter seiner Leitung wurde eine Kartei mit Informationen über mehr als 2000 polnische Emigranten geführt.
Die MBP-Akte schildert auch detailliert, wie Reich-Ranicki Ende 1949 für einige Zeit in Ungnade fiel; als Verdachtsmomente genannt (oder vorgeschoben) werden in der Akte immer wieder seine «unklare Rolle im Ghetto» - er war bis 1943 Mitarbeiter der Ghetto-Verwaltung gewesen - und die Erteilung eines polnischen Visums an seinen angeblich «trotzkistischen» Schwager in London.
Im Januar 1950 wurde Reich-Ranicki aus Partei und Ministerium ausgeschlossen. Daraufhin erbat und forderte er, wie aus seiner inzwischen im Warschauer «Archiv für neue Akten» zugänglichen Parteiakte hervorgeht, mehrfach seine Wiederaufnahme. Laut Akte wurde er 1957 abermals in die Partei aufgenommen; den Brief habe er nie erhalten, sagt Reich-Ranicki.